Der moderne Mensch kam schon vor 54.000 Jahren und verschwand wieder
Neandertaler und moderne Menschen gaben einander quasi die Türklinke einer Höhle im französischen Rhonetal in die Hand - und das rund 10.000 Jahre früher als man es bisher für möglich hielt. Über diese Erkenntnis, die die Annahmen zur Besiedlungsgeschichte Westeuropas durcheinanderbringt, berichtet ein Team mit Wiener Beteiligung im Fachjournal "Science Advances". Demnach hielten sich moderne Menschen schon vor rund 54.000 Jahren dort auf, allerdings nur für etwa 40 Jahre.
Das Forschungsteam um Ludovic Slimak von der Universität Toulouse (Frankreich) analysierte die Besiedlungsspuren der Grotte Mandrin, einer Halbhöhle im südlichen Frankreich. Dieser einstige Siedlungsplatz wurde in einem über 30 Jahre gehenden Projekt beforscht. Die Datierung der Fundstücke, die Zahnreste, sowie Steinwerkzeuge umfassten, wurde von Tom Higham vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien geleitet.
Dabei zeigte sich, dass es eine Art Ausreißer in den geschichteten Überbleibseln gab. Die Funde in der "Schicht E" in der Grotte Mandrin hielten nämlich eine Überraschung bereit, die den bisherigen Annahmen über die Ablöse des Neandertalers als dominante Hominidenspezies in Westeuropa widerspricht.
Komplexerer Prozess als bisher angenommen
Bis auf wenige Hinweise in Griechenland, die nicht in das Bild passen, nehmen Wissenschafter nämlich an, dass die modernen Menschen Europa erst in der Zeit zwischen 43.000 und 45.000 Jahren erreicht haben. In der Folge dürfte dann eine Kombination aus der Anwesenheit von Homo sapiens und veränderten Umweltbedingungen zum Verschwinden der Frühmenschen geführt haben. Die letzten Hinweise auf sie verlieren sich nämlich in der Zeit vor rund 40.000 Jahren. Das formte die Ansicht unter den meisten Wissenschaftern, dass die Ankunft des offensichtlich im für ihn neuen Lebensraum Europa erfolgreicheren modernen Menschen mehr oder weniger direkt ins Verschwinden des Neandertalers gemündet hat.
Die neuen Analysen aus der französischen Höhle geben aber starke Hinweise darauf, dass der Prozess komplexer gewesen sei dürfte, denn besagte "Schicht E" enthielt Beweise für eine Anwesenheit von Homo sapiens - eingebettet zwischen Schichten, die eindeutig auf Neandertaler zurückzuführen waren. Die Schicht mit den Artefakten moderner Menschen datierten die Wissenschafter nun mit modernsten Methoden auf die Zeit zwischen 56.800 und 51.700 Jahren. Das wahrscheinlichste Alter von 54.000 Jahren macht sie zu den ältesten Nachweisen von Homo sapiens in Europa überhaupt. Immerhin 10.000 bis 12.000 Jahre jünger sind die ältesten zuvor gefundenen Überbleibsel in Westeuropa, heißt es in einer gemeinsamen Aussendung der Hauptautoren der Studie.
Neandertaler kehrten zurück
In dieser besonderen Schicht dominieren auch Steinwerkzeuge, die feiner gearbeitet sind als in den Ablagerungen davor und danach. Es gebe überdies Hinweise auf Spitzen für Pfeil und Bogen - eine Technologie, die man bei Neandertalern nicht vermutet hatte. Letztlich stützt ein Zahn eines modernen Menschen in dieser Schicht die Idee, dass die Werkzeuge nicht von Neandertalern stammen.
Laut den Wissenschaftern ist davon auszugehen, dass moderne Menschen die Höhle vermutlich nur über rund 40 Jahre hinweg als Stützpunkt nutzten, von dem aus sie die Umgebung erkundeten. Davor und danach war der Ort wieder von Neandertalern bewohnt. Die nächsten Hinweise auf Homo sapiens finden sich dort auch erst wieder rund 10.000 Jahre später - also zu einem viel eher erwarteten Zeitpunkt.
Technologieaustausch
Die kurze Epoche vor ungefähr 54.000 Jahren mit den so anders gearbeiteten Steinartefakten zeige auch, dass es damals bereits einen Technologieaustausch mit dem Nahen Osten gegeben haben muss. Die Werkzeuge ähneln nämlich Stücken, die im heutigen Libanon gefunden wurden.
All das ändere die Vorstellungen von der Besiedelung des Kontinents fundamental, so die Forscher. Es werde klar, "dass der Homo sapiens nicht einfach den Kontinent betreten hat, und dann den Neandertaler so rasch verdrängt hat wie ursprünglich geglaubt. Das sagt uns auch, dass die Idee unserer sofortigen Überlegenheit nicht zutreffen dürfte", so Higham. Für ihn scheint es eher mehrere Besiedelungswellen gegeben zu haben.
Ergo hätte sich die Ablöse des Neandertalers über mehr als 10.000 Jahre erstreckt, in denen die Gruppen in relativer Nähe zueinanderstanden. Für eine Übertragung von kulturellen Errungenschaften zwischen den damaligen Menschen fanden sich in der südfranzösischen Höhle jedoch keine Hinweise. Die Gruppen dürften sich tatsächlich eher ohne viel Interaktion die Klinke in die Hand gegeben haben.
Service: https://dx.doi.org/10.1126/sciadv.abj9496