Im Grenzgebiet der Leistungsfähigkeit
Die Leistungsdichte in vielen sportlichen Disziplinen hat enorm zugenommen, was der sportwissenschaftlichen Expertise auf der Jagd nach neuen Rekorden zusätzliche Bedeutung verleiht. Der Schlüssel zur sportlichen Optimierung liegt im Spitzen- wie im Breitensport in der genauen Betrachtung des Individuums, wie Hans Holdhaus, Mitbegründer des Instituts für medizinische und sportwissenschaftliche Beratung (IMSB) im Gespräch mit APA-Science erzählt.
Als der Sportschütze Rudolf Dollinger 1976 bei den Olympischen Sommerspielen in Montreal mit der freien Pistole über 50 Meter den dritten Platz erzielte, währte die Freude nur kurz, denn es blieb bei dieser einen Bronzemedaille für Österreich. Es begannen intensive Diskussionen über, warum man international nicht wirklich reüssieren könne, weiß Holdhaus zu berichten: "Die Verbände haben gesagt: Wir brauchen wissenschaftliche Unterstützung. Das hat es so bis dahin nicht gegeben."
Der Leistungsdiagnostiker erhielt unter dem damaligen Sportminister Fred Sinowatz nicht zuletzt auf Wunsch heimischer Sportverbände den Auftrag, sich einmal umzusehen, wie die wissenschaftliche Unterstützung des Sports in anderen Ländern aussieht. Holdhaus kam von seiner veritablen Welt-Tournee "von Australien bis Amerika" mit der Erkenntnis zurück, dass - wie etwa in Sofia zum Thema Rudern beobachtet - ein Bundestrainer, ein Sportmediziner, ein Psychologe und ein Ernährungswissenschafter sehr wohl gemeinsam ein Thema diskutieren und zu einer einheitlichen Meinung kommen können. "Das könnte der gemeinsame Weg auch in Österreich sein", resümierte Holdhaus - und erntete gleichermaßen Heiterkeit wie Skepsis.
Objektivierte Trainingsmaßnahmen
Entgegen aller Ressentiments wurde 1982 das IMSB mit einem interdisziplinären Ansatz aus der Taufe gehoben, der bis heute besteht: "Wir haben alles im Haus, was in irgendeiner Form wissenschaftsrelevant ist". Was bedeutet, dass Sportmediziner, Sportwissenschafter, Ernährungswissenschafter, Labordiagnostiker, Physiotherapeuten und Masseure Seite an Seite arbeiten. Zunächst galt es aber, Widerstände zu überwinden. Etwa war Felddiagnostik im Sport noch komplettes Neuland, wurde aber von Trainern und Verbänden sehr gut angenommen, "weil vor allem die Objektivierung von Trainingsmaßnahmen ein ganz entscheidender Punkt ist."
Was heute selbstverständlich ist, war vor 35 Jahren eine Pionierleistung, etwa begleitend zum Training zur Ermittlung der Ausdauerleistungsfähigkeit den Laktatwert im Blut zu bestimmen. Laktat ist ein Stoffwechselzwischenprodukt, das gebildet wird, wenn die Muskulatur bei zunehmender Belastung Energie ohne Sauerstoff produzieren muss und führt zur "Übersäuerung" der Muskeln. Neben der Geschwindigkeit und der Herzfrequenz ist die Substanz eine der wichtigsten Messgrößen für die Belastungssteuerung und Trainingsplanung.
Die zentrale Fragestellung für die Sportwissenschafter war es daher zu ermitteln, wie stark die Belastung aus metabolischer Sicht bei einem Wettkampf ist und diese dann im Training zu simulieren. "Damit verbunden war auch die Frage was man tun kann, um das Laktat schneller wieder wegzubringen, weil das ein deutlicher Ermüdungsfaktor ist", so der Experte, der bei allen Olympischen Spielen seit 1984 als wissenschaftlicher Koordinator fungierte.
Auf das Wissen, das so in den 1980ern gewonnen und besonders von den Läufern rund um Dietmar Millonig und die Judoka rund um Peter Seisenbacher in Anspruch genommen wurde, wird bis heute zurückgegriffen. Neben motorischen Untersuchungen zu Kraft, Beweglichkeit und Koordination wurden auch sportartspezifische Tests entwickelt. Bei Judo etwa kam als Schwerpunkt die Gewichtsproblematik hinzu. Um auf ihr exaktes Wettkampfgewicht zu kommen, setzten sich die Sportler früher etwa auf stundenlang in die Sauna. Nur bedeutet Wasserverlust auch Leistungsverlust, wie man heute weiß. Daher setzt man mittlerweile bei der Ernährung an, auch das eine wichtige Erkenntnis, die im Lauf der Jahre gewonnen wurde.
"Alle Prognosen waren falsch"
Die Luft an der Spitze ist aber bekanntlich dünner geworden. Weltrekorde bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften wird es auch weiterhin geben, aber wie lange lässt sich die Leistungsoptimierung des menschlichen Körpers noch fortsetzen? "Die Frage wo die Leistungsgrenze des Menschen ist, wird seit Jahrzehnten leidenschaftlich diskutiert. Alle Prognosen waren falsch", so Holdhaus.
Denke man etwas voraus, an die Olympischen Sommerspiele 2024, dann werde etwa für den Marathon-Sieg bereits eine Zeit von unter zwei Stunden notwendig sein, schätzt der Experte. Dazu müsse man sich ansehen, was das aus Sicht der Herz-Kreislauf-Belastung, der Sauerstoff-Aufnahme bzw. für den Stoffwechsel bedeute. Darüber hinaus wird künftig auch der genetische Code der Sportler in den Fokus rücken, ist sich Holdhaus sicher: "In diese Richtung wird sich der Leistungssport sicher einmal entwickeln."
Per Muskelbiopsie könnte man theoretisch bereits bei Jugendlichen differenzieren, ob ihre Muskulatur eher für Ausdauersport geeignet ist - darauf würde ein höherer Anteil an langsam zuckenden Muskelfasern hindeuten -, oder solche, bei denen eher Schnellkraft entscheidend ist (mehr schnell zuckende Muskelfasern). Bei "normalen" Menschen ist die Verteilung dieser Fasern ungefähr gleich groß, Sprintstar Usain Bolt dagegen verfügt über ungefähr 80 Prozent schnell zuckende Muskelfasern. Daher könne aus ihm auch niemals ein guter Marathonläufer werden. Holdhaus spricht aus Erfahrung. Als ehemaliger Sprinter versuchte er sich einmal an einem Marathon und erinnert sich daran als den "schrecklichsten Tag meines Lebens".
Bei genetischen Analysen kommen aber ethische Bedenken ins Spiel, denn dadurch "deckt man de facto den Menschen von der Geburt bis zum Tod auf". Muskelbiopsien sind auch deshalb in Österreich verboten, weil es keinen medizinischen Grund dafür gibt, in China dagegen seien sie bereits "etwas ganz normales."
Einblicke in Zellen per MRT
Ein weiterer Nachteil von Biopsien ist, dass sie nur den Ist-Zustand von Zellen widerspiegeln. Eine nicht-invasive Möglichkeit, zu Einblicken auf Zellebene zu gelangen, sind moderne bildgebende Verfahren. In einer bis dato "weltweit einzigartigen" Studie will Holdhaus ab April in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien mit Hilfe eines 7-Tesla-Ultra-Hochfeld-Magnetresonanztomographen (MRT) Aufschlüsse darüber gewinnen, was auf Zellebene bei sportlicher Belastung geschieht.
"Dieses Gerät, von dem es weltweit nur wenige gibt, hat eine unglaubliche Auflösung. Man kann direkt in die Zelle hineinschauen, ohne sie herausnehmen zu müssen", freut sich Holdhaus über möglicherweise völlig neue Erkenntnisse. Spitzensportler werden dabei sportlich belastet und anschließend wird geschaut, was sich in der Zelle geändert hat. Dann werden regenerative Maßnahmen gesetzt und analysiert, welche am besten wirken. Ergebnisse werden ungefähr bis Juni erwartet.
Die dunkle Seite der Leistungssteigerung
So viel die Wissenschaft unterstützend und beratend für den Spitzensport tut, so oft wird nach wie vor versucht, illegale Abkürzungen zu nehmen. Dabei hat sich Doping "wesentlich verändert", sagt Anti-Dopingfachmann Holdhaus (siehe dazu auch "Wie schützen wir die 'sauberen' Sportlerinnen und Sportler"). Während früher Anabolika aus heutiger Sicht "ziemlich primitiv und dumm" eingenommen wurden, nämlich in relativ hohen Dosen und daher monatelang nachweisbar, werde heute fast durchwegs in Form von Mikrodosen gedopt, bevorzugt in der testfreien Zeit von 23 Uhr bis 6 Uhr. Wenn die Kontrolle dann komme, sei man bereits wieder "clean".
Gedanken bereitet aber vor allem jegliche Form des Gendopings, über dessen Existenz oder Einsatz keine wirkliche Klarheit herrscht. Eine öfters genannte Möglichkeit des Gendopings sind etwa Myostatin-Hemmer. Myostatin ist ein Protein, das das natürliche Muskelwachstum einbremst. Hemmt man nun Myostatin, wachsen die Muskeln von ganz alleine, ohne Training und Anabolika - so zumindest das Prinzip. Ob der Prozess dann auch wieder reversibel ist, ist eine andere Frage.
Was "State of the art" im Doping ist, hängt von der Sportart ab. Einerseits ist im Ausdauersport weiterhin Erythropoietin (EPO) weit verbreitet (das Hormon regt die Bildung roter Blutkörperchen an, die für den Sauerstofftransport im Blut verantwortlich sind; Anm.), andererseits sind Anabolika (androgene Steroidhormone) "nach wie vor die Nummer eins in anderen Sportarten" - für Muskelwachstum, höhere Belastbarkeit und bessere Regenerationsfähigkeit. Müßig zu erwähnen, aber scheinbar noch immer notwendig, sei es, "dass man sich bei diesen Dingen bewusst sein muss, unabhängig davon, dass das Betrug ist: Es ist gesundheitsschädlich."
Individualisierung als letzte Optimierung
Wo kann man also noch ansetzen, um die Leistung zu optimieren im Spitzensport? Der Anfang einer jeglichen Beratung, die die Experten am IMSB vornehmen, besteht aus einer kompletten sportmedizinischen Untersuchung, um Gesundheitszustand und Belastungsfähigkeit mittels EKG, Herzschall etc. festzustellen. Der Blutstatus gibt in weiterer Folge auch Aufschluss über mögliche Ernährungsdefizite. Der motorische Status wird unter anderem mit Hilfe des FMS-Tests erhoben (Functional Movement Screen), um eventuelle Dysbalancen zu erkennen, was wiederum der Verletzungsprävention dient.
Am Ende verfügt man nach der Gegenüberstellung des Ist-Zustands mit dem Soll-Zustand über ein Schwächen-Stärken-Profil. "Man muss einfach davon ausgehen, dass jeder Mensch anders ist und andere genetische Voraussetzungen hat. Je genauer man auf die jeweilige Person Rücksicht nehmen kann und sie mit ihren Stärken und Schwächen kennt, umso besser kann man das Training optimieren. Das ist extrem individuell geworden", erklärt Holdhaus.
Das gelte im Übrigen auch für den Hobbysport: "Wir lernen permanent vom Spitzensportler und können das auch dem Normalverbraucher anbieten. Es gibt kein Programm, das für jeden passt." Die entscheidende Frage sei nicht die Theorie, sondern das Umsetzen von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis, so der Leistungsdiagnostiker. "Es geht um die Person, und wie können wir das Medikament Bewegung - das sage ich bewusst - einsetzen in Richtung Leistungssport und Gesundheit."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science