#CoronaAlltag: Kreativität und Chancen durch Rückzug
Es ist nun fast einen Monat her, dass die Regierung notwendige Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsraten mit dem neuartigen Coronavirus treffen musste. Wie in vielen anderen Bereichen war auch unser Institut (Ludwig Boltzmann Institut Applied Diagnostics) von den gesetzten Maßnahmen betoffen und es war meine Pflicht, unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ins Home Office zu schicken, um unsere Patienten und Patientinnen, Kollegen und Kolleginnen sowie v.a. auch uns selbst zu schützen. Viele dieser MitarbeiterInnen, die eigentlich täglich im Labor stehen, um zu experimentieren, mussten lernen, sich mit der neuen Situation und dem geänderten Arbeitsumfeld zurechtzufinden.
Rückzug kann Kreativität schaffen
Wissenschaftliche Ergebnisse, insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften, beruhen zumeist auf Experimenten, die im Labor stattfinden und folgen Hypothesen, die zuvor aufgestellt, diskutiert und verteidigt wurden. Die Erarbeitung neuer Hypothesen folgt einem kreativen Prozess, ebenso wie die Diskussion und die Planung der nötigen Experimente.
Neben der Kreativität, neue Hypothesen zu erarbeiten, ist auch die finanzielle Ausstattung erforderlich, um die Experimente durchzuführen. Als wissenschaftliches Institut verfügen wir über eine solide finanzielle Grundausstattung. Ideen, die über das geplante und budgetierte Maß hinausgehen, erfordern allerdings zusätzliche Finanzmittel, die in Form von Fördermitteln eingeworben werden können, die einem sehr starken Konkurrenzkampf unterliegen. Solche Fördermittel werden auf Antrag nach strenger Begutachtung vergeben, es handelt sich hier um eine internationale Vorgehensweise. Das Verfassen eines solchen Förderantrags erfordert Ruhe, Muße und ein gehöriges Maß an Hingabe.
Nun ist es so, dass der begeisterte Wissenschaftler sehr diszipliniert am Labortisch arbeitet, Stunden werden nicht gezählt, die Ergebnisse und die Begeisterung über das tägliche Staunen über neue Resultate stehen im Vordergrund. Zeiten des Rückzuges für Kreativität und Muße sind rar. Dieses Spannungsfeld ist täglich spürbar und führt zu Leidensdruck. Derzeit sind wir allerdings gezwungen, diesen Rückzug zu pflegen. Dies birgt viele Chancen und ich bin täglich überrascht und begeistert über die unglaublichen Ideen, die zu den verschiedensten Themen gesponnen und diskutiert werden.
Schreiben und Lesen ist wesentlicher Teil des wissenschaftlichen Alltags
Es ist klar, dass neue Ideen und Förderanträge für finanzielle Mittel primär von älteren und erfahreneren Wissenschaftlerinnen kommen müssen. Aufgabe der jüngeren Wissenschaftlerinnen (vor allem Doktoratstudentinnen) ist das Erarbeiten des eigenen Themas, das Befassen mit der Literatur sowie die Diskussion der eigenen Resultate in diesem Kontext. Dies erfordert Anleitung durch den/die Betreuer, ist ein interaktiver und zeitaufwändiger Prozess, der im oben beschriebenen Forschungsalltag manchmal zu kurz kommen kann. Unsere derzeitige Situation, die uns das Arbeiten am Labortisch verbietet, ermöglicht uns diese verstärkte Rückkopplung mit unseren jüngeren Wissenschaftlerinnen, mit dem Effekt, dass die Zeit intensiv für das Verfassen erster Schriftstücke, Textpassagen für die Dissertation oder einfach nur zur guten Literaturrecherche genutzt werden kann.
Die derzeitige Situation ist sehr belastend
Es ist selbstredend, dass die oben genannten positiven Effekte der derzeitigen Situation in einem sehr starken Spannungsfeld mit den Belastungen, die die Krise mit sich bringt, liegen. Mittlerweile sind die Folgen und Herausforderungen für uns alle spürbar, jeder kennt Betroffene und Leidtragende. Nicht Jede ist in der Lage, geborgen und in Ruhe seinen Aufgaben zu folgen, teils durch nachvollziehbare Unruhe in den WGs oder das Zusammenleben in kleineren Wohnungen. Wir alle wünschen uns, bald wieder in die gepflogene Normalität zurückkehren zu können, allerdings möchte ich die Erfahrungen zu "Home Office" nicht missen und in Zukunft speziell Zeit für die oben genannten Themen gezielt fördern.
Zur Person: Prof. Dr. Markus Mitterhauser ist Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts Applied Diagnostics, welches an der Medizinischen Universität Wien und an der Universität Wien angesiedelt ist. Das Institut forscht an einer neuen Diagnoseform für Prostata- und Dickdarmkrebs.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.