#CoronaAlltag: Medizinanthropologie und Epidemien
Epidemien sind mein Alltag. Konkret: die Epidemien der anderen. Ich arbeite als Medizinanthropologin an der Medizinischen Universität Wien und bin immer wieder für die Weltgesundheitsorganisation WHO in der Bekämpfung von Epidemien tätig, z. B. während der Ebola-Epidemie in Westafrika. In unserem Wissenschaftsfeld geht es vor allem darum, Verhalten zu analysieren - wie Menschen mit Krankheit umgehen, diese verstehen und erleben - aber auch welchen Zugang Betroffene zu Gesundheitseinrichtungen haben und wie sich strukturelle Bedingungen auf die Krankheiten auswirken. In Liberia habe ich etwa mit Ebola-Überlebenden Interviews geführt und sie erzählen lassen, wie sie ihre eigene Erkrankung erlebt haben, wie sie sich und ihre Liebsten geschützt und wie sie die Krise gemeistert haben - alles inmitten eines zusammenbrechenden Gesundheitssystems, das von jahrzehntelangem Bürgerkrieg geprägt ist.
Mein Team und ich arbeiteten auch eng mit Gesundheitspersonal zusammen, das in teils sehr entlegenen Gesundheitseinrichtungen arbeitet, schlecht bezahlt, oft weit weg von zu Hause ist, weil sie hier am dringendsten gebraucht werden. Wir haben über ihre Rolle während der Ebola-Epidemie, ihrem Engagement in den Dörfern und Gemeinschaften, aber auch dem Misstrauen, das ihnen von der Bevölkerung entgegengebracht wurde, gesprochen. Manche sind während der Epidemie als "Virusträger" stigmatisiert und sogar mit Steinen beworfen worden.
Diese Aufenthalte finden zumeist unter schwierigen bis sehr schwierigen Bedingungen statt: Schwer einzuschätzende Sicherheitslage, schlechte Infrastruktur und ein kaum vorhandenes öffentliches Gesundheitswesen. So sehr diese Forschungen oft nervenaufreibend und auch körperlich anstrengend sind, finde ich es aufregend und anregend, in einem derartigen Umfeld zu arbeiten. Außerdem bin ich in der überaus privilegierten Situation, jederzeit nach Österreich zurückkehren zu können. Im schlimmsten Fall kann ich sofort heimgeflogen werden in ein Gesundheitssystem, in dem fast alles verfügbar ist, in dem es Intensivversorgung gibt, umfassende Expertise, Rehabilitation und ein Sozialversicherungssystem, das (fast) alles bezahlt. Meine lokalen KollegInnen und InterviewpartnerInnen in Westafrika haben dieses Privileg nicht. Sie müssen mit dem auskommen, was vorhanden ist, mit einem Mangel auf allen Ebenen der Gesundheitsstruktur: Mangel an Personal, Expertise, Material, usw..
Meine Arbeit in der derzeitigen Covid-19 Epidemie gestaltet sich gar nicht so anders, obwohl mich die Epidemie diesmal wie Milliarden andere auch selbst direkt betrifft: Ausgangsbeschränkungen, "soziale Distanz" (was eigentlich besser mit physischer Distanz umschrieben wäre) und Unsicherheit, wie die nächsten Monate und vielleicht Jahre aussehen werden. Während sich der Ort der Arbeit (Homeoffice) verändert hat, sind meine Themen sehr ähnlich geblieben mit der Ausnahme, in einem Umfeld arbeiten zu können, das sicher und stabil ist und in dem für die elementaren Grundbedürfnisse fast aller gesorgt ist.
In unseren wissenschaftlichen Projekten "zu Hause" beschäftigen wir uns in unserem Team - denn Wissenschaft ist immer Teamarbeit - mit zwei großen Themen. Einerseits mit dem Aufbau des internationalen Netzwerks SONAR-global, das sozialwissenschaftliche Expertise bei Epidemien liefern soll. Zu Beginn dieses Projekts 2019 war von Covid-19 noch keine Rede, da interessierten uns vor allem schnell auftretende Infektionskrankheiten wie Ebola und Marburg-Fieber und die Frage, wie man vulnerable Gruppen am besten schützt und Gemeinschaften in ihrem Bestreben, solche Epidemien durchzustehen, unterstützen kann. Auch Masern sind ein Thema, weil diese, verniedlichend oft als "Kinder-Krankheit" bezeichnet, vermehrt auch in Europa epidemisch auftreten, obwohl es seit Jahrzehnten eine gut verträgliche Impfung dagegen gibt. Die Zahl der Impfskeptiker ist aber leider ebenfalls im Ansteigen begriffen.
In den vergangenen "Corona-Wochen" haben wir jetzt Schnell-Förderungen für zwei weitere Projekte erhalten, die sich ganz konkret mit Covid-19 beschäftigen: Das eine vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) finanzierte Projekt analysiert die derzeitige Arbeitssituation von Gesundheitspersonal, das mit Covid-19-PatientInnen arbeitet. Das andere Projekt, vom Gesundheitsministerium gefördert, untersucht die psycho-soziale Situation von PatientInnen in Quarantäne. Beides sind Themen, die an das anknüpfen, was mich schon jahrelang in Afrika beschäftigt, womit sich irgendwie ein Kreis schließt.
Mein "Corona-Alltag" ist daher im Moment geprägt von den formalen Vorbereitungen, die solche Forschungen benötigen: dem Formulieren von Forschungs-Protokollen und Fragebögen, Einreichungen bei Ethikkommissionen, damit wir unsere Forschungen auch nach den geltenden Richtlinien der "good scientific practice" durchführen können, sowie Online-Meetings. Daneben müssen auch die "regulären" Arbeiten erledigt werden, die ja deshalb nicht weniger werden: Unterrichten von Studierenden (im Covid-Modus natürlich online), lesen und kommentieren studentischer, schreiben eigener wissenschaftlicher Arbeiten und begutachten wissenschaftlicher Aufsätze und Projekte von KollegInnen im In- und Ausland.
Die derzeitige Situation in vielen Ländern Afrikas lässt mich aber nicht los. Bei uns entwickelt sich die Epidemie momentan positiv - natürlich mit angemessenem Respekt einer Krankheit gegenüber, die wir kaum noch kennen. Darum denke ich sehr besorgt an die Länder des "globalen Südens", die das alles noch vor sich haben, die aber mit deutlich weniger Ressourcen dem Virus entgegentreten müssen. Wenn schon wir vor einer Überlastung der Intensivversorgung zittern, was heißt das dann für Afrika? Während in Europa auf eine Million Einwohner im Durchschnitt 4.000 Intensivbetten kommen, gibt es in den 43 afrikanischen Ländern nur fünf Intensivbetten für eine Million Einwohner und insgesamt weniger als 2.000 funktionierende Beatmungsgeräte (WHO 2020).
Und was bedeuten Maßnahmen, die bei uns so relativ einfach umsetzbar sind, in anderen Ländern? Was bedeutet "social distancing" in Westpoint, dem größten Slum Liberias, im indischen Mumbai, oder in den Favelas Brasiliens, wo die Menschen dicht an dicht wohnen, über eine unsichere Stromversorgung und mangelnde sanitäre Einrichtungen verfügen? Wie kann man sich Quarantänemaßnahmen vorstellen, wenn viele Menschen Taglöhner sind und von der Hand in den Mund leben? Wie wird sich die Epidemie in Westafrika entwickeln, dessen Gesundheitssysteme noch von der letzten Ebola-Epidemie gezeichnet sind? Wie wirken sich in diesen Ländern die weit verbreiteten multiplen Belastungen mit Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria und HIV/Aids plus chronischen Erkrankungen wie Übergewicht und Diabetes auf den Covid-19-Krankheitsverlauf aus?
Das alles sind Fragen, die mich im Moment beschäftigen, ganz luxuriös in meinem Homeoffice in meiner eigenen Wohnung mit einem Supermarkt um die Ecke und einer der besten Gesundheitsinfrastrukturen der Welt.
Zur Person: Priv.-Doz. Dr. Ruth Kutalek ist Leiterin der Arbeitsgruppe Medizinanthropologie und Globale Gesundheit am Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien. Sie ist Medizinanthropologin und arbeitet zum Bereich Infektionskrankheiten, insbesondere zum Sozialverhalten bei Epidemien. Im Rahmen dieses Schwerpunkts war sie für die WHO während der Ebola-Epidemie 2014-2016 in Westafrika als Projektleiterin tätig und als Expertin bei der Lassa-Fieber-Epidemie in Nigeria involviert.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.