Historiker Orlando Figes: "Der Putinismus muss besiegt werden."
Der Brite Orlando Figes (63) gilt als einer der besten Kenner der Geschichte Russlands. Davon zeugen seine Bücher über die Russische Revolution, über den Krimkrieg, die Stalin-Zeit oder "Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands". Der Professor für Geschichte am Londoner Birkbeck College stellte auf der "Buch Wien" sein neues Werk "Eine Geschichte Russlands" vor. Davor gab er der APA ein ausführliches Interview, das natürlich stark um die Gegenwart kreiste.
APA: Professor Figes, Ihr Buch "Nataschas Tanz" hat mir Russland erstmals so richtig nahegebracht - abgesehen von den großen Werken seiner Literaten. Worauf gründete sich Ihre Faszination für Russland?
Orlando Figes: Die Literatur, ganz allgemein die russische Kultur. Ich hatte schon früh Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew und andere gelesen. Als mein Uni-Betreuer mich davon überzeugte, dass ich von den Junghegelianern, mit denen ich mich ursprünglich befassen wollte, lieber die Finger lassen sollte - denn, wie er es ausdrückte, wenn man ein Tief hat oder Probleme mit seiner Freundin, will man sich nicht jeden Morgen mit Hegel rumschlagen -, kam ich wieder auf meine alte Liebe zur russischen Literatur zurück. Die ersten russischen Städte, die ich als Student bereiste, waren Kiew und Moskau und ich war rasch gefangen von dem intellektuellen Leben dort. Ich war überrascht, welche Bedeutung Bücher und Gedanken dort hatten. Das war nämlich die einzige Freiheit, die die Menschen hatten. Bald hatte ich dort viele Freunde. Russland hat eine große, faszinierende Geschichte. Es ist ein sehr großes und sehr schwieriges Land. Und bekanntlich kommt Russland ja nie aus den Schlagzeilen heraus... (lacht)
APA: In "Nataschas Tanz" beschrieben Sie eindrucksvoll, wie sehr sich die russische Elite früher als zentraler Teil Europas empfunden hat. Hätte es eine Wendung in der Geschichte geben können, die Russland bis heute fest in die Mitte der europäischen Staaten integriert?
Figes: Natürlich. Am Ende des 19. Jahrhunderts war es fester Bestandteil Europas und der europäischer Kultur. Auch politisch bewegten sie sich in Richtung Westen. Das autoritär-aristokratische System Russlands unterschied sich damals kaum von jenem in den westlichen Monarchien. Man muss also nicht die vielen Jahrhunderte bis zu den Kiewer Rus (ein mittelalterliches Vielvölkerreich, das schließlich von den Mongolen erobert wurde, Anm.) zurückgehen, wie es manche russische Intellektuelle machen. Und natürlich hätte es nach 1991 eine große Chance dafür gegeben - eine Möglichkeit, die leider aus einer Reihe von Gründen verpasst wurde. Einer davon war, dass der Westen dazu tendierte, die Russen als besiegten Feind anzusehen, nicht als Opfer des Sowjetsystems. Während sie den Balten oder den Ukrainern zugestanden, sich davon befreien zu wollen, wurde Russland als verantwortlich für das Sowjetsystem gesehen. Deshalb wollte man es in einem Zustand der Schwäche belassen. Das ist teilweise für den russischen Groll gegenüber dem Westen verantwortlich - der freilich noch viel tiefer verwurzelt ist. Viele Menschen hatten es schwer, sich nach dem Ende der Sowjetunion in einem neuen Leben zurechtzufinden. Die Attraktivität eines antiwestlichen Nationalismus, wie er von Putin geschürt wird, kommt auch daher.
APA: In Ihrem Buch beschreiben Sie eine jahrhundertelange Abfolge von Mord, Unterdrückung und Zerstörung. Auf der anderen Seite betonen Sie den starken Glauben an Religion und Mythen. Ist das tatsächlich ein unverrückbarer Bestandteil der "russischen Seele"?
Figes: Ja, das ist eine der Thesen des Buches. Der Glaube an die Geschichten über Russlands Stärke und Bestimmung ist ungemein wichtig - auch für die jeweiligen Führer. Die russische Geschichte war immer die Mine, in der sie nach ihren Visionen für die Zukunft geschürft haben. Putins Vision basiert zentral auf diesen Vorstellungen: Es gab ein Groß-Russland, zu dem die Ukraine immer schon dazugehört hat.
APA: Putin scheint da in jeder Hinsicht ein Traditionalist zu sein, denn Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie stark die russische Geschichte seit jeher immer wieder umgeschrieben und als Begründung für die jeweilige Politik verwendet wurde.
Figes: Genau. Er verfolgt klare nationalistische und imperialistische Ziele. Die Rolle, die er für sich sieht, ist, Russland zurückzuführen in die Zeit eines großen russischen Reiches. Dass der Westen dekadent und eine Gefahr sei, sind ganz alte Vorstellungen, zu denen Putin einfach zurückgegangen ist und sie mit ein paar radikalen Elementen angereichert hat - etwa, indem er auch Ideen des umstrittenen deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt über die natürliche Hegemonie von Staaten integriert hat. Das spielt in seiner Haltung zur Ukraine ganz klar eine Rolle. Es ist eine klassische slawophile, anti-westliche Ideologie, die auch stark von der antiliberalen Kirche unterstützt wird. Es ist ein eklektische, giftige Mischung aus Nationalismus, Imperialismus und Schmitt'schem Faschismus.
APA: Sie zitieren Umfragen, wonach die Sowjetunion in Russland heute wieder sehr positiv besetzt ist. Wie ist erklärbar, dass die Schrecken des Stalinismus, der in praktisch allen Familien Opfer gefordert hat, vergessen und verdrängt wurden?
Figes: Besonders interessant ist die Sowjet-Nostalgie junger Leute, die dieses System gar nicht selbst erlebt haben. Ich glaube, es ist die Unsicherheit der Gegenwart, die die Sehnsucht der Menschen nach der Stabilität der Vergangenheit antreibt. Tatsächlich glauben viele, Russland habe seine größte Zeit unter Stalin erlebt. Wenn man tiefer gräbt, dann denken die Menschen nicht an den Stalin, der für Massenmorde verantwortlich ist, sondern an den Stalin, der den Krieg gewonnen und die Nazis besiegt hat, der den Russen den Stolz zurückgegeben und Russland zu einer Großmacht gemacht hat.
APA: In welchem Kapitel Ihres Buches waren Sie, als Russland die Ukraine überfallen hat?
Figes: Es war mein Lockdown-Buch. Ich habe es im November 2021 beendet und gedacht, ich hätte meinen Job nun erledigt. Seit 2014, der Annexion der Krim, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie sehr sich unsere Sicht auf die russische Geschichte von der russischen Sichtweise darauf unterscheidet. Diese Diskrepanz wurde immer auffälliger, je aggressiver Putins Politik wurde und je mehr er der Ukraine ihre Eigenständigkeit absprach. Das war der Ausgangspunkt meines Buches: Die Geschichten und Mythen, die die Russen selbst in ihrer Geschichte als zentral erachten. Als ich das Buch abgab, dachte ich, Russland werde der Ukraine weiter drohen, sei aber nicht stark genug, wirklich eine Invasion zu starten. Als es dazu kam, war ich genauso schockiert wie jeder andere. In dem Moment war natürlich klar, dass ich mein letztes Kapitel überarbeiten müsse. Also wurde das Buch erst Mitte April fertig.
APA: Man gewinnt in Ihrem Buch den Eindruck, dass es für die Annexion der Krim eine größere historische Legitimität gibt als für den Rest der Ukraine.
Figes: Für die Russen hat die Krim sicher aus vielen Gründen einen Sonderstatus, nicht nur wegen des Marinestützpunkts Sewastopol oder der Tradition als Urlaubsdestination vieler Russen. Putin sieht den Anspruch der Ukraine auf die Krim auch historisch völlig unbegründet. Aber man darf nicht vergessen, dass auch andere Gebiete, die nun von den Russen besetzt sind, für lange Zeit als russisch angesehen wurden. Der Donbas wurde früher Neu-Russland genannt. Nicht nur Putin sieht diese Gebiete als russisch an, auch viele andere. Der Autor Alexander Solschenizyn hat in "Rebuilding Russia" 1990 geschrieben, dass dieses Land an Russland zurückgegeben werden sollte. Und Michail Gorbatschow, den wir aus guten Gründen schätzen, hat die Annexion der Krim sehr begrüßt. Es gab also in Russland ein durchaus breites Spektrum an Meinungen, dass es eine Art ukrainische Frage gebe, mit der man sich befassen sollte.
APA: Sie scheinen in Ihrem Buch stellenweise ebenfalls Sympathie mit Russland zu zeigen und geben der NATO-Erweiterung eine Mitschuld an den Entwicklungen...
Figes: Nein, keine Sympathie! Die NATO-Erweiterung wurde zweifellos schlecht administriert. In gewisser Weise ist die NATO selbst ein Problem. Es ist klar, dass Russland wohl nie NATO-Mitglied werden kann, aber allen anderen Staaten muss man zugestehen, ihre eigene Sicherheitsarchitektur zu wählen. Das lässt Russland immer alleine. Und Putins Propaganda macht sich das auch stark zunutze und verwendet dafür etwa die NATO-Intervention gegen Serbien, die den einfachen Menschen in Russland wohl nicht wirklich Sorgen gemacht hat. Aber sie können sich noch gut an den Kalten Krieg und das damals verwendete Feindbild des Westens erinnern, auf dem Putin aufbaut. Das alles heißt nicht, dass ich Sympathien für Russland habe. Aber dass man nach 1991 besser hätte agieren können, mit dieser Meinung bin ich nun wahrlich nicht alleine.
APA: Ist das eine historische Wende, die wir hier miterleben?
Figes: Ganz sicher. Mit dieser Invasion hat sich Putin dazu entschlossen, sich politisch nach Osten zu orientieren. Unzweifelhaft wird er, egal wie der Krieg ausgeht, für einige Zeit vom Westen isoliert sein. Die herrschende Elite scheint damit kein Problem zu haben, sie glaubt, dass es eine gemeinsame Zukunft mit China und dem Iran geben kann, in einer anti-westlichen Allianz. Das ist natürlich auch ein wichtiger Test für den Westen. Denn die Russen werden in diesem Krieg nicht nachgeben. Für das russische Regime ist dieser Krieg von existenzieller Bedeutung.
APA: Wie könnte eine Lösung in diesem Krieg aussehen?
Figes: Irgendwann muss die NATO gemeinsam mit der Ukraine den Begriff eines Sieges definieren - ob das etwa doch auch heißen könnte, Russland die Krim zu überlassen. Wenn die Ukraine versuchen würde, die Krim mithilfe von NATO-Waffen zurückzuerobern, könnte das die Rote Linie für Russland, eventuell auch für den Einsatz von taktischen Atomwaffen, sein. In der russischen Denkweise würden sie das als Angriff auf Russland sehen. Auf der anderer Seite glaube ich nicht, dass es eine Verhandlungslösung mit dem Putin-Regime geben kann. Da hat die ukrainische Seite wohl recht: Ihm ist nicht zu trauen. Der Putinismus muss besiegt werden.
APA: Aber ist es möglich, dass Russland selbst sich vom Putinismus befreit?
Figes: Revolutionen passieren üblicherweise rasch und unerwartet. Ich sage nicht, dass ich eine erwarte, denn die Unterdrückung, die das Regime einsetzt, ist weiterhin sehr groß. Aber es können die Dinge aus vielen Gründen in Bewegung kommen. Ich glaube, dass es keinen Frieden mit Russland geben wird, solange das Putin-System an der Macht ist.
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
Service: Orlando Figes: "Eine Geschichte Russlands", übersetzt von Norbert Juraschitz, Verlag Klett-Cotta, 448 Seiten, 28,80 Euro