Wie sich das Leben vor einer Milliarde Jahren entwickelte
Niemand wusste bisher genau, wie die Evolution zu höher entwickelten Zellen mit "Organen" (Organellen) und Pflanzenzellen samt Nutzung des Sonnenlichts erfolgte. Jetzt haben Schweizer Wissenschafter erstmals ein Modell dafür geschaffen, wie das vor einer Milliarde Jahren abgelaufen sein dürfte. Per Nanonadel und Fahrradpumpe schufen sie Pilzzellen mit symbiotisch lebenden Bakterien.
"Diese Großtat könnte Wissenschaftern helfen, den Anbeginn von Symbiosen zu verstehen, die zu spezifischen Organellen wie den Mitochondrien ("Kraftwerke der Zellen", Anm.) und Chloroplasten (Strukturen zur Nutzung des Sonnenlichts; Anm.) vor mehr als einer Milliarde Jahren vor sich ging", hieß es vergangene Woche in einer Darstellung der Forschungsergebnisse in der Wissenschaftszeitschrift "Nature".
Implantieren von Bakterien in Pilzen
Die Basis für diese Feststellung war die wissenschaftliche Arbeit des Mikrobiologen Gabriel Giger von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und seinen Co-Autoren unter Julia Vorholt. In "Nature" hatten sie ihre Studie zur "Schaffung neuer Endosymbiosen durch Implantieren von Bakterien in Pilzen" publiziert.
An sich sind in der Biologie "Lebensgemeinschaften" verschiedener Organismen durchaus bekannt und kommen relativ häufig vor. So zum Beispiel gibt es Endosymbiosen zwischen Bakterien und Insekten. "Endosymbiotische 'Verwandtschaften', in denen ein mikrobieller Partner harmonisch in den Zellen eines anderen Organismus lebt, existieren in zahlreichen Lebensformen, inklusive Insekten und Pilzen", hieß es in "Nature".
Im Zuge der Entstehung des Lebens auf der Erde aber spielten solche Ereignisse eine entscheidende Rolle. "Wissenschafter sind überzeugt, dass die Mitochondrien, also die Organellen, welche für die Energieproduktion der Zellen verantwortlich sind, von einem Bakterium abstammen, das sich in einem Vorläufer der eukaryontischen Zellen einnistete. Chloroplasten (Strukturen mit Chlorophyll zur Nutzung des Sonnenlichts; Anm.) entwickelten sich, als Vorläufer der pflanzlichen Zellen die Fotosynthese nutzende Mikroorganismen aufnahmen", schrieb die Wissenschaftszeitschrift. Endosymbiose-Ereignisse können im Laufe der Evolution auf der Erde zu neuen biochemischen Fähigkeiten von Organismen führen, die Diversifikation von Arten und die Innovation in der Biologie vorantreiben.
Bisher ein Rätsel
Diese Thesen gelten hoch plausibel. Doch wie die Prozesse zur Entstehung von solchen Endosymbiosen führen, konnte bisher nicht nachvollzogen werden. Immerhin entstanden Zellen mit Mitochondrien und pflanzliche Zellen vor mehr als einer Milliarde Jahren auf der Erde. Die damals lebenden Organismen sind im Zuge der Evolution längst verschwunden.
Umso anschaulicher sind die Ergebnisse der ETH-Mikrobiologen. Sie injizierten mit feinsten Nadeln (500 bis 1.000 milliardstel Meter dick) das Bakterium Mycetohabtans rhizoxinica in Pilzzellen der Art Rhizopus microsporus. Dann beobachteten sie das Entstehen einer Endosymbiose. Die Experimente liefen über Jahre hinweg. Um pro Injektion ein bis 30 Bakterienzellen in die Pilzzellen einzubringen, mussten die Wissenschafter zahlreiche Tricks anwenden. Zur Überwindung des Innendrucks der Pilzzellen zu überwinden, erfolgte das zunächst mithilfe einer Fahrradpumpe, dann mit der Kraft eines Kompressors.
Die Bakterien wurden so markiert, dass sie unter bestimmtem Licht fluoreszierten. Anfänglich war der Erfolg gering. Ein Teil der Pilzzellen starb ab, weil sich die Mikroben in ihrem Inneren zu schnell vermehrten und den Wirtsorganismus killten. Andere Experimente gingen schief, weil die Mikroben nicht überlebten. Das Immunsystem der Pilzzellen hatte sie ausgeschaltet.
Symbiotisch lebende Pilzzell-Mikroben-Konstrukte
Schließlich filterten die Wissenschafter "erfolgreich" symbiotisch lebende Pilzzell-Mikroben-Konstrukte heraus und vermehrten diese. Nach zehn Vermehrungsrunden waren 75 Prozent dieser Pilzzellen ähnlich "fit" wie Pilzzellen ohne Bakterien. Der Anteil der über Sporen neu entstehenden weiteren Generationen von Pilzzellen mit den Bakterien stieg von 0,01 Prozent auf 24,1 Prozent.
Das bedeutete, dass sich die Pilze mit den Bakterien irgendwie mit ihren symbiotischen "Partnern" arrangiert haben mussten, genauso wie wahrscheinlich die Vorfahren der Pflanzenzellen mit den Keimen samt Chlorophyll, die sie absorbiert hatten. Die Wissenschafter gingen schließlich der Frage nach, wie die Anpassung der Pilzzellen bzw. der Bakterien an einander funktionierte. Interessant, so die Experten: "Bei den Bakterien fanden wir keine Mutationen in unserem Evolutionsexperiment." Hingegen wurden im Erbgut der Pilzzellen, welche die Keime tolerierten, neun Genmutationen entdeckt, welche offenbar irgendetwas mit dem Entstehen der Endosymbiose zu tun haben dürften. Ihre Rolle ist noch ungeklärt.
"Insgesamt bestätigten die (Gen-; Anm.)Sequenzierungsanalysen, dass die Genveränderungen während diesem adaptiven Evolutionsexperiment eher auf der Wirtsorganismus-Seite als auf der Ebene des Endosymbionten erfolgten", schrieben Giger und seine Co-Autoren. Es wäre also durchaus möglich, dass die Vorläufer aller Pflanzenzellen mit Fotosynthese nach dem Inkorporieren von Keimen mit Chlorophyll Toleranz ausbildeten, um diesen Mechanismus der Energiegewinnung nutzen zu können. Ähnliches könnte auch bei der Aufnahme jener Organismen geschehen sein, die vor mehr als einer Milliarde Jahren die effizienten Kraftwerke der höheren Zellen entstehen ließen.