#CoronaAlltag: Coronakrise und die Demokratie
Die Arbeit einer Demokratiewissenschafterin besteht darin, die Ausübung und Weiterentwicklung (manchmal auch den Abbau) demokratischer Grundrechte national und international zu beobachten, zu analysieren und in Kontext zu setzen, schließlich die Erkenntnis in der universitären Lehre oder außeruniversitär in der politischen Bildung der Öffentlichkeit zuzuführen. Aufgrund der Absage zahlreicher Seminare, Vorträge und Workshops besteht mein Arbeitsalltag derzeit im Verfassen wissenschaftlicher Texte und in der Beantwortung zahlreicher Interviewanfragen.
Besonders oft wird mir die Frage gestellt, ob die Demokratie in Gefahr sei beziehungsweise, inwiefern sie sich durch die Coronakrise ändert. Ich habe daher eine (gern zu erweiternde) Liste angelegt, was für die Verteidigung der Demokratie nun zu tun ist. Denn auch wenn wir immunologisch naiv sind, können wir uns mit Blick über die Grenze oder in unsere eigene Geschichte doch gegen einen Shutdown der Demokratie sehr wohl zur Wehr setzen.
To-Do-Liste "Demokratie in der Coronakrise":
• Demokratie braucht die physische Begegnung, um sichtbar zu sein. Daher müssen Parlamente weiterhin tagen, solange es ihnen nur irgendwie möglich ist - wenn nötig in geschrumpfter Zusammensetzung oder in abgetrennten Räumen verbunden durch Videokonferenz, aber sie müssen zusammentreten und dürfen nicht ihrer Quasi-Ausschaltung zustimmen, etwa indem sie einen Notausschuss beantragen. Das österreichische Parlament hat sich für eine Verkleinerung gemäß Mehrheitsverhältnissen entschlossen. Diese Woche tritt der Nationalrat mit 96 Abgeordneten zusammen; also gerade hinreichend genug, um auch Verfassungsgesetze zu beschließen. Für den Beschluss einfacher Gesetze wäre übrigens sogar nur ein Drittel, also 61 Abgeordnete, genug.
• Jede Maßnahme - sei sie auch auf den ersten Blick noch so gering - muss ein Befristungsdatum erhalten. Und jede Verlängerung einer einmal gesetzten Maßnahme muss aufs Neue der Diskussion unterliegen und darf nicht einfach durchgewunken werden. Zu groß ist die Gefahr eines ewig verlängerten Ausnahmegesetzes, das womöglich, wenn wir uns erst daran gewöhnt haben, in den gewöhnlichen Rechtsbestand übergeht.
• Politische Verantwortungsträger*innen müssen Exit-Strategien vorlegen. Denn die grundlegende Frage ist: Wie kommen wir aus der Demokratiequarantäne wieder als offene Gesellschaft raus? Ab wann setzt eine Gewöhnung an den autoritären Maßnahmenstaat ein, der uns doch so erfolgreich schützt?
• Es gibt nicht nur die ökonomischen Kosten der Coronakrise, sondern auch gesellschaftliche Kosten sind zu kalkulieren. Dem Stab an Berater*innen, den die Regierung versammelt, müssen daher auch Soziolog*innen, Psycholog*innen, Historiker*innen etc. angehören. Der Eingriff in die offene Gesellschaft kann traumatisierend wirken, weswegen die Coronakrise auch sozialwissenschaftliche Antworten benötigt.
• Dass Demokratie physische Begegnung benötigt, gilt auch für die Zivilgesellschaft und die außerparlamentarische Opposition. Sie trifft das Versammlungs- als physisches Demonstrationsverbot besonders hart. Der digitale Raum kann den öffentlichen niemals ersetzen, nicht zuletzt weil wir bei einer digitalen Verabredung immer mitbedenken müssen: Wie weit geht die Überwachung? Wer hört, wer liest mit? Zudem gibt es auch klassen- und bildungsspezifische Ungleichheiten beim Zugang zu digitalen Medien. Es macht einen ein Unterschied, das Versammlungsrecht wahrzunehmen und vor dem Bundeskanzleramt zu protestieren oder online die Stimme zu erheben. Im virtuellen Raum kann man nicht laut sein, nicht physisch Präsenz zeigen.
• Nichtsdestotrotz müssen sich Bürger*innen, Wissenschafter*innen und die organisierte Zivilgesellschaft weiterhin und gerade jetzt kritisch einmischen, sei es in Gastkommentaren, Leserbriefen oder indem sie Plakate aus dem Fenster hängen. Die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit darf selbst in dieser Krise nicht aufgegeben werden. Wir alle tragen Verantwortung, wenn wir die Verschiebung der rechtlichen Maßstäbe schweigend hinnehmen. Diskussion und Widerspruch müssen aufrechterhalten und dürfen nicht einem kritiklosen "Wir-Gefühl" des eingeforderten "Team Österreich" geopfert werden.
• Daran anschließend: Die Meinungsfreiheit gehört in der aktuellen Situation zu den besonders zu verteidigenden Rechtsgütern. Da Beschränkungen des Vereinsrechts, der Religionsfreiheit oder des Persönlichkeitsrechts (z.B. politische Mitstreiter*innen zu treffen) und insbesondere das Versammlungsrecht eingeschränkt sind, bleibt der Zivilgesellschaft nur die online ausgeübte Meinungsfreiheit. Seitens der Regierung gegen "Fake News" vorzugehen, wie es z.B. die britische Regierung unternimmt, oder gar Bußgelder für die Verbreitung von Desinformation zu erteilen, wie es deutsche Politiker*innen fordern, schießt über die Grenzen des Rechtsstaates hinaus.
• Hierbei gilt es für alle Teilnehmer*innen des öffentlichen Diskurses und besonders für die handelnden Entscheidungsträger*innen, auf ihre Wortwahl besonders Bedacht zu nehmen. Eine Viruspandemie ist kein "Krieg". Es gilt kein Kriegsrecht. Demokratie ist eine Kulturtechnik, daher sind autoritäre und paternalistische Aussagen tunlichst zu vermeiden: Keinesfalls ist der Bevölkerung mit einer weiteren Einschränkung ihrer Grundrechte zu drohen, wenn sie die Benimmprobe nicht besteht. Freiheitsrechte sind nicht etwas, was der Staat gewährt, sondern etwas, das er gewährleistet!
Zur Person: Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sowie selbstständige Beraterin für Demokratieinnovationen (v.a. für Städte und Gemeinden in Österreich und Zentraleuropa). Als politische Bildnerin leitet sie Workshops für Erstwähler*innen und hat gemeinsam mit Kollegen der IG Demokratie die "Demokratie Repaircafés" ins Leben gerufen. Siehe auch: http://go.apa.at/hC1jefwm. Die Autorin auf Twitter: @Tamara_Ehs
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.