#CoronaAlltag: Von der Schönheit der Differentialgleichungen und den Türmen aus Elfenbein
Es war an einem Freitag, dem 13. Zwischen den üblich hereinplätschernden E-Mail-Nachrichten tauchen ein paar außergewöhnliche Meldungen auf. "Wahrscheinlich werden am Montag alle öffentlichen Gebäude geschlossen. Das betrifft auch uns..." Und nicht viel später dann die Aufforderung: "Alle wichtigen Unterlagen mit nach Hause nehmen! Wir übersiedeln ab sofort ins Homeoffice."
So schnell wie alles vor sich geht, wirkt es richtiggehend surreal. Eine seltsame Stimmung verbreitet sich. Überall ist Verunsicherung zu spüren. In den Medien werden Schreckensszenarien der über uns hereinbrechenden Corona-Epidemie verbreitet. In den Supermärkten nehmen die Hamsterkäufe zu.
Am Abend dann versuche ich Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Irgendetwas passt hier nicht zusammen, sagt mein Gefühl. Ich beginne zu recherchieren: Kennzahlen zu Covid-19, Verläufe der Epidemie in China und Südkorea. Das Internet ist hier ein fast endloser Fundus für Informationen aller Art. Und dann blitzt in mir die Erinnerung an die Mathematik auf. Exponentielles Wachstum nach dem Gesetz von Malthus, logistisches Wachstum zur Berücksichtigung begrenzter Ressourcen... Und alles fassbar mit einfachen Differentialgleichungen, die sich leicht separieren und analytisch lösen lassen.
Wann hatte ich das letzte Mal mit Differentialgleichungen zu tun? Hat nicht ein netter Fachkollege einmal gemeint, dass die Zeit der Differentialgleichungen für uns vorüber wäre? "Das haben wir damals gekonnt. Sogar sehr gut gekonnt. Aber die Zeit der Differentialgleichungen ist vorbei!" Ja, ich weiß schon, zeitabhängige Vorgänge lassen sich nur mit Differentialgleichungen formalisiert beschreiben. Und auch ich habe in meiner beruflichen Tätigkeit immer wieder mit transienten Vorgängen zu tun. Seien es nun Abkühlvorgänge in Fernwärmesystemen oder das Verhalten von Speichern. Aber die heutigen programmtechnischen Möglichkeiten erlauben uns ein bequemes Verharren im Diskreten. Wieso sollte ich den formalen Schritt hin zu den Differentialgleichungen gehen, wenn sich die Berechnungen auch mit endlichen Differenzen hinreichend genau, bequem und vor allem schnell durchführen lassen?
Ich leite aus den Infektionsverläufen in China und Südkorea die nötigen 3 Parameter ab und siehe da, eine geschwungene Sigmoidkurve erfüllt den Zustandsraum. Statt in astronomisch anmutende Fallzahlen von 5 Millionen Infizierten zu münden - so wird das in den Medien für Österreich bei knapp 9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern kolportiert - nähert sich meine Kurve einem Maximalwert in die Größenordnung von 12.000 Infizierten. Der Kontrast zu den veröffentlichten Zahlen könnte fast nicht drastischer sein. Wobei, wenn es in China in der Provinz Hubei 80.000 Infizierte bei einer Bevölkerung von rund 60 Millionen waren...?
Es wird in den nächsten Tagen und Wochen eine spannende Nebenbeschäftigung für mich, die offiziellen Zahlen der Corona-Epidemie in Österreich mit meiner einfachen Berechnung zu vergleichen. Und siehe da, die realen Zahlen folgen meiner Differentialgleichung wunderbar. Irgendwann muss der Wendepunkt kommen, da hat dann die erste Ableitung der Kurve ein Extremum. So haben wir das einmal gelernt. Und wenn man eine Kurve betrachtet, die die Lösung einer Differentialgleichung ist, so hat man die erste Ableitung ja schon von vorneherein bei der Hand. Der 26. März ist das Datum des Wendepunktes meiner Differentialgleichung. Und siehe da, auch die realen Zahlen der Neuinfizierten folgen der Kurve. Die Epidemie wird immer mehr zu einem offenen Buch. Wir sind bereits von einem konkaven in einen konvexen Verlauf übergetreten. Die Kurve flacht bereits merklich ab.
Und dann erscheint ein sogenanntes Expertenpapier. Verfasst von Professoren und Rektoren österreichischer Universitäten. Und dort ist u. a. zu lesen, dass "in Österreich zehntausende zusätzliche Tote und der Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu erwarten sind", wenn es nicht rasch gelingt, den für den Zuwachs maßgeblichen Faktor zu senken. Untermalt werden diese Aussagen noch mit Diagrammen, in denen ein Anwachsen der Todesfälle in Bereiche von 100.000 und mehr dargestellt ist.
Ich bin sprachlos. Wie kann man Aussagen zu einem Vorgang machen, ohne irgendeinen Bezug zum realen Geschehen?
Ich verfolge die Zahlen der Infektionen immer noch. Das ist für mich so etwas wie ein fixer Bestandteil des Corona-Alltags geworden. Die realen Infektionszahlen haben inzwischen die Sigmoidkurve verlassen und sind in eine Gerade übergegangen. Wir halten momentan bei gut 14.000 Infizierten.
Ich habe jedenfalls in den letzten Wochen unheimlich viel dazugelernt. Und gleichzeitig habe ich auch erkannt, wie schön, elegant und praktisch Differentialgleichungen sein können. Und darüber hinaus ist mir noch klar geworden, dass die Elfenbeintürme immer noch bewohnt sind.
Zur Person: DI Dr. Matthias Theissing, Assoziierter Professor am Institut für Energie-, Verkehrs- und Umweltmanagement der FH JOANNEUM ist nach Studium des Maschinenbaus und Doktorat an der TU Graz seit mehr als 20 Jahren als Experte im Bereich Energiewirtschaft und Kraftwerkstechnik tätig.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.