Wenn die Muskeln schwinden
Die Hälfte aller Menschen mit Leberzirrhose verliert krankhaft an Muskelmasse. Das kann so weit reichen, dass lebensrettende Operationen unmöglich werden. Eine Forschungsgruppe in Graz hat nun das "Missing Link" zwischen Leber und Muskel gefunden: das Darm-Mikrobiom. Damit rücken Therapien in den Fokus, bei denen man nützliche Bakterien fördert.
Der menschliche Körper gleicht einem Ökosystem, das von Mikroorganismen besiedelt wird. Bakterien erfüllen vielfältige Aufgaben und helfen beispielsweise bei der Verdauung und der Immunabwehr. Doch nun haben Forschende der Medizinischen Universität Graz herausgefunden, dass eine ungünstige Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms mit Muskelschwund zusammenhängt. Das ergaben Untersuchungen bei Menschen mit chronischen Lebererkrankungen. Mit mehr als 1.100 Fällen pro 100.000 Personen hat Österreich nach Rumänien die zweithöchste Zahl an chronisch leberkranken Personen in Europa.
Achse zwischen Leber und Muskel entdeckt
In dem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten klinischen Forschungsprojekt "Die Darm-Leber-Muskel-Achse bei Leberzirrhose" wurden Bakterienstämme identifiziert, die vermehrt vorkommen, wenn Leberzirrhose und Muskelschwund gleichzeitig auftreten. Darmbakterien sind für die Umwandlung von unveränderten (primären) in sekundäre Gallensäuren im Verdauungstrakt verantwortlich. Es zeigte sich, dass bei den Studienteilnehmenden das veränderte Darm-Mikrobiom zu einem überdurchschnittlichen Anstieg bestimmter sekundärer Gallensäuren führte.
"Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Gallensäureprodukte über das Blut in den Muskel gelangen und dort zu Schäden führen", wie Vanessa Stadlbauer-Köllner erklärt. Die Studienleiterin ist Professorin für Translationale Mikrobiomforschung und Hepatologie an der Medizinischen Universität Graz und will nun zur Entwicklung neuer Therapien beitragen, die das Darm-Mikrobiom gezielt beeinflussen.
Neue Sicht auf Gallensäuren
Für das klinische Forschungsprojekt rekrutierte das Team um Stadlbauer-Köllner 217 Personen mit und ohne Leberzirrhose und unterteilte sie wiederum in solche mit und ohne Muskelschwund (Sarkopenie). Durch den Vergleich von Probenmaterial fanden sie eine Häufung von Bakterienstämmen wie Bacteroides fragilis, Blautia Marseille, Sutterella spp. und Veillonella parvula bei Teilnehmenden mit Muskelschwund. Im Gegensatz dazu schien Bacteroides ovatus eine positive Wirkung zu haben und kam bei jenen vor, die trotz Leberzirrhose keinen Muskelschwund aufwiesen. Darüber hinaus stellte das Team fest, dass die ungünstigen Bakterienstämme mehr sekundäre Gallensäuren bildeten.
Dass die Gallensäuren als Bindeglied eine so wichtige Rolle spielen würden, war nicht von Anfang an klar. "Früher betrachtete man Gallensäuren wie ein Spülmittel für den Darm, das bei der Verdauung von Fetten hilft. Heute wissen wir, dass die Substanzen als Hormone auf andere Zellen wirken können", sagt Stadlbauer-Köllner. So zeigen Laborversuche mit Zellkulturen aus Muskelzellen, dass sekundäre Gallensäuren diese schädigen. Ob das auch im Körper passiert, will Stadlbauer-Köllner nun in einem Folgeprojekt genauer untersuchen. Sie vermutet, dass die Substanzen bei chronisch kranken Personen durch eine gestörte Darmbarriere ins Blut gelangen.
Muskelschwund: Ein ernst zu nehmendes Problem
Muskelschwund ist bei vielen chronischen Erkrankungen und auch im Alter ein ernst zu nehmendes Problem. Dass sich Stadlbauer-Köllner in ihrer Forschung auf chronische Lebererkrankungen spezialisiert, ergibt sich aus ihrer Tätigkeit als Leiterin der internistischen Lebertransplantationsambulanz in Graz. "Der Muskelschwund kann zu äußerst belastenden Situationen führen. Es kommt vor, dass Menschen zu schwach sind, um eine Lebertransplantation als Heilung der Lebererkrankung durchführen lassen zu können", berichtet die Hepatologin von den Schwierigkeiten im medizinischen Alltag.
"Leider wissen die meisten Menschen nicht von ihrer Erkrankung, bis sie wegen einer schweren Komplikation ins Krankenhaus müssen", betont Stadlbauer-Köllner. Denn der Leberzirrhose, dem Endstadium einer Leberschädigung, gehen meist langwierige Prozesse voraus. Die häufigsten Auslöser sind Infektionen mit Hepatitis-B- oder -C-Viren, Alkoholkonsum, Autoimmunerkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen wie Übergewicht oder Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit).
FWF-Förderschiene für klinische Studien
Mit der Identifizierung der Bakterienstämme haben die Forschenden erste Schritte in Richtung einer gezielten Therapie gesetzt, die nützliche Darmbakterien fördert oder direkt zuführt. Darüber hinaus erforscht Stadlbauer-Köllner die Wirkung von einem Medikament aus speziellen Aminosäuren auf das Mikrobiom und den Muskel. Den Grundstein für diese Therapieansätze hat das vom FWF geförderte Projekt gelegt. "Für die klinische Forschung ist es sehr wertvoll, dass der Wissenschaftsfonds FWF ein derartiges Förderprogramm hat", betont Stadlbauer-Köllner. "Viele Jahre lang war das für uns translational Forschende das einzige Förderinstrument, um Therapien unabhängig erforschen zu können."
Mittlerweile ist das Interesse am Darm-Mikrobiom über die Labore hinaus auch in der Öffentlichkeit angekommen, nicht zuletzt, weil im vergangenen Jahr in den USA das weltweit erste Medikament zur Therapie des Mikrobioms zugelassen wurde. Dennoch mahnt Stadlbauer-Köllner zur Geduld. "Die Hoffnungen sind derzeit noch größer als das, was die Wissenschaft bewerkstelligen kann", sagt die Medizinerin. "In der Forschung zum Mikrobiom steckt viel Potenzial, aber auch viel Grundlagenarbeit, die noch geleistet werden muss."
Zur Person
Vanessa Stadlbauer-Köllner ist Gastroenterologin und Hepatologin. In ihrer klinischen Tätigkeit leitet sie die internistische Lebertransplantationsambulanz an der Medizinischen Universität Graz. Als Wissenschaftlerin leitet sie die Arbeitsgruppe Translationale Mikrobiommodulation an der Medizinischen Universität Graz und ist Abteilungsleiterin für Translationale Präzisionsmedizin am CBmed, einem Grazer Forschungsinstitut.
Das Projekt „Die Darm-Leber-Muskel-Achse bei Leberzirrhose“ (2019–2023) wurde vom Wissenschaftsfonds FWF mit 384.000 Euro gefördert. Außerdem erhielt das Projekt über 57.000 Euro aus der vom FWF initiierten „Krisenunterstützung für Forschende aus der Ukraine“, die es der ukrainischen Forscherin Olha Hazia ermöglichten, den Projektumfang maßgeblich zu erweitern.
Publikationen
Horvath A., Zukauskaite K., Hazia O., Balazs I., Stadlbauer V.: Human gut microbiome: Therapeutic opportunities for metabolic syndrome – Hype or hope?, in: Endocrinology, Diabetes & Metabolism 2024
Aliwa B., Horvath A., Traub J., Feldbacher N. et al.: Altered gut microbiome, bile acid composition and metabolome in sarcopenia in liver cirrhosis, in: Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle 2023
Rückfragehinweis:
Ingrid Ladner
Österreichischer Wissenschaftsfonds FWF
Redaktion scilog
Telefon: +43 676 83487 8117
E-mail: ingrid.ladner@fwf.ac.at
Website: https://scilog.fwf.ac.at/