Dem Ursprung komplexer Lebewesen auf der Spur
Wie entstanden die komplexen Lebewesen auf der Erde? Das ist eine der großen unbeantworteten Fragen in der Biologie. Eine Zusammenarbeit der Arbeitsgruppen von Christa Schleper an der Universität Wien und Martin Pilhofer an der ETH Zürich ist der Antwort darauf einen Schritt nähergekommen. Den Forscher*innen gelang es, ein besonderes Archaeon zu kultivieren und mittels mikroskopischer Methoden genauer zu charakterisieren. Dieser Vertreter der Asgard-Archaeen weist einzigartige zelluläre Merkmale auf und könnte einen evolutionären "Missing Link" hin zu den komplexeren Lebensformen wie zum Beispiel den Tieren und Pflanzen sein. Die Studie ist aktuell im Fachmagazin "Nature" erschienen.
Die Lebewesen auf der Erde werden in drei große Domänen eingeteilt: Eukaryoten, Bakterien und Archaeen. Eukaryoten beinhalten die Gruppen der Tiere, Pflanzen und Pilze. Ihre Zellen sind in der Regel weitaus größer und auf den ersten Blick komplexer als Zellen von Bakterien und Archaeen. Das genetische Material der Eukaryoten ist zum Beispiel in einem Zellkern verpackt und die Zellen verfügen darüber hinaus über eine Vielzahl von weiteren Kompartimenten. Die Zellform und der Transport innerhalb der eukaryotischen Zelle basieren außerdem auf einem ausgedehnten Zytoskelett. Wie gelang jedoch der evolutionäre Sprung zu solch komplexen eukaryotischen Zellen?
Die meisten derzeitigen Modelle gehen davon aus, dass Archaeen und Bakterien bei der Entwicklung der Eukaryoten eine zentrale Rolle gespielt haben. Es wird angenommen, dass vor etwa zwei Milliarden Jahren eine eukaryotische Urzelle aus einer engen Symbiose zwischen Archaeen und Bakterien entstand. Im Jahr 2015 wurden durch Genomstudien von Umweltproben der Tiefsee die Gruppe der sogenannten "Asgard-Archaeen" entdeckt, welche im Stammbaum die nächsten Verwandten der Eukaryoten darstellen. Erste Bilder von Asgard-Zellen wurden bereits 2020 von Anreicherungskulturen einer japanischen Gruppe veröffentlicht.
Asgard-Archaeen aus Meeressedimenten kultiviert
Der Arbeitsgruppe von Christa Schleper an der Universität Wien gelang es nun erstmalig, einen Vertreter dieser Gruppe in höherer Anreicherung zu kultivieren. Er stammt aus Meeressedimenten an der Küste von Piran, Slowenien, ist aber auch ein Bewohner Wiens, zum Beispiel im Ufersediment der Donau. Wegen seines Wachstums zu großen Zelldichten kann dieser Vertreter besonders gut untersucht werden. "Es war eine sehr aufwendige Feinarbeit, diesen extrem empfindlichen Organismus in einer stabilen Kultur im Labor zu erhalten", berichtet Thiago Rodrigues-Oliveira, Postdoc in der Archaea Arbeitsgruppe an der Uni Wien und einer der Erstautoren der Studie.
Asgard-Archaeen haben eine komplexe Zellform mit ausgedehntem Zytoskelett
Der bemerkenswerte Erfolg der Wiener Forscher*innen mit der Kultivierung eines hoch angereicherten Asgard-Vertreters erlaubte schließlich die eingehende Untersuchung der Zellen durch Mikroskopie. Die ETH Forscher*innen der Gruppe von Martin Pilhofer verwendeten dazu ein modernes Kryo-Elektronenmikroskop, um Bilder von schockgefrorenen Zellen aufzunehmen. "Diese Methode ermöglicht einen dreidimensionalen Einblick in inneren Zellstrukturen", erläutert Pilhofer. "Die Zellen bestehen aus runden Zellkörpern mit dünnen, teilweise sehr langen Zellfortsätzen. Diese Tentakel-ähnlichen Gebilde scheinen manchmal sogar unterschiedliche Zellkörper miteinander zu verbinden", so Florian Wollweber, der die Zellen monatelang im Mikroskop aufgespürt hat. Die Zellen enthalten außerdem ein ausgedehntes Netzwerk aus Aktin-Filamenten, wie man es so bislang nur von eukaryotischen Zellen kennt. Dies weist darauf hin, dass ausgedehnte Zytoskelett-Strukturen schon vor dem Auftreten der ersten Eukaryoten in Archaeen entstanden sind und beflügelt evolutionäre Theorien, die sich um diesen wichtigen und spektakulären Prozess in der Evolution ranken.
Zukünftige Einblicke durch den neuen Modellorganismus
"Unser neuer Organismus mit dem Namen 'Lokiarchaeum ossiferum' hat sehr großes Potential, auch zukünftige bahnbrechende Einblicke in die frühe Evolution von Eukaryoten zu ermöglichen", kommentiert die Mikrobiologin Christa Schleper. "Es hat sechs lange Jahre gedauert, eine stabile und hochangereicherte Kultur zu erhalten, aber jetzt können wir viele biochemische Studien durchführen und unsere Erfahrungen auch für Kultivierungen weiterer Asgard-Archaea einsetzen". Außerdem können die Wissenschafter*innen nun die neuen, an der ETH entwickelten bildgebenden Methoden nutzen, um zum Beispiel die engen Wechselwirkungen zwischen Asgard-Archaeen und ihren bakteriellen Partnern zu untersuchen. Auch grundlegende zellbiologische Prozesse wie die Zellteilung können in Zukunft studiert werden, um den evolutionären Ursprung dieser Mechanismen zu beleuchten.
Originalpublikation:
Rodrigues-Oliveira T, Wollweber F, Ponce-Toledo RI, Xu J, Rittmann SKMR, Klingl A, Pilhofer M, Schleper C. 2022. Actin cytoskeleton and complex cell architecture in an Asgard archaeon. Nature
DOI 10.1038/s41586-022-05550-y
Mehr Informationen zu Christa Schleper, der Wittgenstein-Preisträgerin 2022, finden Sie hier im Wissenschaftsmagazin Rudolphina der Universität Wien.
Wissenschaftlicher Kontakt: Univ.-Prof. Dipl.-Biol. Dr. Christa Schleper Department für Funktionelle und Evolutionäre Ökologie Universität Wien 1030 Wien, Djerassiplatz 1 +43-1-4277-76510 +43-664-60277-76510 christa.schleper@univie.ac.at https://ecology.univie.ac.at Rückfragehinweis Mag. Alexandra Frey Media Relations Manager Universität Wien 1010 Wien, Universitätsring 1 +43-1-4277-17533 +43-664-8175675 alexandra.frey@univie.ac.at www.univie.ac.at