#CoronaAlltag: Vereinbarkeit von Mobilität und sozialer Distanz
Für die Menschheit hat sich Mobilität zu einer Notwendigkeit entwickelt, die wesentlich zum Wohlstand der Gesellschaft, Austausch von Wissen und individueller Unabhängigkeit beiträgt. Die derzeitigen Auswirkungen von COVID-19 schieben unserem Bedürfnis nach persönlicher Bewegungsfreiheit nahezu weltweit einen Riegel vor. Wie ein Großteil unserer Gesellschaft, sind auch wir Forscherinnen und Forscher persönlich in unserem Alltag und unserer Forschungsarbeit davon betroffen. Die Ergebnisse aus IKT und Digitalisierung, an denen auch die Wissenschaft einen wichtigen Anteil hat, haben effektive Werkzeuge hervorgebracht um, wenn schon nicht physisch, virtuell miteinander verbunden zu sein. In unserer Forschung können wir so auch von zuhause aus weiter an unseren Projekten arbeiten und den wissenschaftlichen Diskurs vorantreiben.
Gerade in dieser Zeit, in der wir mit COVID-19 eine der größten Herausforderungen für die Menschheit erleben, ist die Forschung als Vordenker gefragt, um Antworten zu liefern, wie wir die jetzige Disruption unseres Verständnisses von Mobilität zu einem Vorteil für die Gestaltung einer nachhaltigeren Zukunft nutzen können. Es ist jetzt auch unbedingt notwendig zu hinterfragen, ob die in unseren Mobilitätssystemen gelebte Praxis aus immer verfügbar, besser und schneller die wünschenswerte Perspektive von "zurück zur Normalität" ist. In unserer Forschung am AIT haben wir beispielsweise ein Konzept für ein "Mobilitätskonto" entwickelt, das zu einem suffizienteren Verständnis von Mobilität - faire und angemessene Nutzung des öffentlichen Raums, von Energie und Mobilität - führen kann.
Während die zukünftige Gestaltung unserer Mobilitätssysteme, insbesondere in Hinblick auf die weiteren Entwicklungen durch COVID-19, in einem breiteren Kontext erforscht werden muss, ist es gleichzeitig essentiell, sich mit der wichtigsten Bewegungsform - dem Zufußgehen - intensiv zu befassen. Gerade an öffentlichen Orten, in denen wir zu Fuß unterwegs sind, wie beispielsweise in Verkehrsinfrastrukturen (Bahnhöfe, U-Bahnstationen, Züge, etc.), in essentiellen Geschäften der Nahversorgung (Supermärkte, Drogerien, Apotheken, etc.), oder Parks, kann es zu größeren Menschenansammlungen kommen, welche die vorhandenen räumlichen Kapazitäten übersteigen. Wie also können wir uns, angesichts des Gebots, die Ausbreitung von COVID-19 so gut wie möglich zu bremsen, in diesen öffentlichen Orten bewegen, und wie kann die räumliche und operative Organisation dieser Umgebungen die besonders wichtige Einhaltung sozialer Distanz im täglichen Leben unterstützen?
Wir können beobachten, dass viele öffentliche Räume aufgrund ihres Designs nicht auf die Einhaltung dieser sozialen Distanz ausgelegt sind, zum Beispiel aufgrund zu schmaler Durchgänge oder Gehsteige. Da oftmals die physische Gestaltung nicht so einfach geändert werden kann, liegt das große Potential in der richtigen Nutzung unserer Gebäude und öffentlichen Räume, die durch entsprechende Maßnahmen unterstützt werden kann. Ein aktuelles Beispiel aus den Niederlanden zeigt, dass dort die Supermärkte die Anzahl der Kunden stark einschränken, d.h. pro 10 Quadratmeter Verkaufsfläche darf nur ein Kunde eintreten. Diese Begrenzung der Kundenanzahl kann beispielsweise durch eine vorgegebene, feste Anzahl von Einkaufswagen oder -körben relativ einfach umgesetzt werden - sind diese vollständig ausgegeben, müssen die Kunden draußen warten. Doch sind diese Maßnahmen die richtigen, sind sie gut implementiert und reichen sie aus?
Die Bewegungen von Personen als Individuen, in der Gruppe oder sogar in Menschenmassen sind dynamisch und es ist damit schwer vorherzusagen, welche Implikationen unterschiedliche Maßnahmen haben. Gleichzeitig ist das Risiko von "Trial-and-error" gerade im Blickwinkel von COVID-19 sehr hoch. In meiner Forschungsarbeit am AIT habe ich gemeinsam mit meinem Team in den letzten 15 Jahren Simulationsmodelle entwickelt, mit denen Personenflüsse unter verschiedenen baulichen sowie organisatorischen Maßnahmen prognostiziert und analysiert werden können. Insbesondere können wir damit aktuell die Wirksamkeit von Maßnahmen unter der Berücksichtigung der aktuellen COVID-19 Vorgaben hinsichtlich der minimalen Sicherheitsabstände, die zwischen Personen einzuhalten sind, evaluieren. Aktuell konnten wir in der Simulation von Kundenströmen in einem Supermarkt zeigen, dass die Halbierung der Kundenfrequenz zusammen mit einem Einbahnsystem, statt der zufälligen Abfolge der Regalbesuche, eine stark positive Auswirkung auf die Kontaktzeiten, d.h. jener Zeit, während derer der Abstand zwischen Personen weniger als 1 Meter beträgt, hat. Ohne Maßnahmen ist nahezu niemand weniger als drei Minuten in Kontakt mit anderen Personen. Mit den Maßnahmen stehen 62% aller Kunden weniger als 10 Sekunden in Kontakt, 83% weniger als 20 Sekunden und 90% weniger als 30 Sekunden. Ähnlich positive Effekte auf die Reduktion von Kontaktzeiten können wir in der Simulation bei Maßnahmen zur Leitung und Aufteilung der Personenströme in U-Bahnstationen nachweisen. Unsere Simulation kann sowohl die Effizienz der aktuellen Maßnahmen unterstützen als auch Strategien bei stufenweiser Wiederinstandsetzung der gewohnten Aktivitäten im täglichen Leben auf deren Wirksamkeit und eventuelle Risiken hin untersuchen.
Die Herausforderungen von COVID-19 sind vielschichtig, und viele Forschungsdisziplinen sind dazu aufgerufen und motiviert, ihren Beitrag zu einer Lösung zu leisten. Aus Sicht der Mobilitätsforschung werden wir uns dafür einsetzen, dass trotz der aktuellen sozialen Distanz die Zukunft der Mobilität eine nachhaltige und inklusive wird.
Zur Person: Stefan Seer ist Senior Scientist am AIT Austrian Institute of Technology, wo er die Forschungsgruppe "Integrated Mobility Systems" leitet. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Analyse und Vorhersage von Personenbewegungen in multimodalen Mobilitätssystemen. Er forscht ebenfalls im SENSEable City Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.