Grün statt Grau im Plattenbau
Inmitten einer Landschaft aus trostlosen Wohnbauten, herbstleeren Feldern und Baustellen steht auf einer Verkehrsinsel in Neu Leopoldau ein Bus. Nur die Aufschrift "ICH BRAUCHE PLATZ!", die die gesamte Längsseite in weißen Buchstaben ziert, und das blitzblanke Äußere deuten darauf hin, dass es sich nicht einfach um ein abgestelltes Modell der Wiener Linien handelt. So, wie man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen soll, steckt auch hier mehr dahinter, als ahnungslose Passanten vermuten würden.
Das erste, was beim Betreten des Busses auffällt, ist der Geruch nach Holz. Statt Plastiksitzen mit Kunststoffbezügen, die brav in Reih und Glied stehen, wird die Längsseite des Busses komplett von einer Arbeitsplatte aus hellem Holz belegt. In den Regalen darunter befinden sich Boxen mit Stiften, Scheren, Tackern, Lochern, kurz: Werk- und Bastelmaterial. Auf der Arbeitsfläche steht ein Drucker, sonst verstellt nichts den Blick nach draußen. Unter einer Abwasch ist sogar Platz für einen Kühlschrank.
Das Fahrzeug ist sozusagen eine mobile "Forschungs-Basis", entwickelt und umgebaut von Architekturstudenten im Rahmen einer Lehrveranstaltung. Die Idee dazu entstand 2015 im Zuge der Lehr- und Forschungsinitiative "DISPLACED - Space for Change", in der Studierende und Lehrende der Architekturfakultät der Technischen Universität (TU) Wien das Flüchtlingsquartier in der Vorderen Zollamtsstraße 7 in Wien neu gestalteten, erklärt Assistenzprofessorin Karin Harather, die DISPLACED mitinitiiert hat und weiterhin leitet, bei einem Besuch von APA-Science.
Ich brauche Platz - aber wofür?
Seit Oktober 2019 ist das Bus-Labor unterwegs, steht für jeweils zwei Monate an einem der Stadtentwicklungsstandorte der Internationalen Bauausstellung (IBA) Wien und zieht dann weiter. "Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen neue Perspektiven zu eröffnen, ihnen Möglichkeitsräume für ihre Selbstwirksamkeit anzubieten und sie darin zu bestärken, aktiv mitzugestalten und sich Räume kreativ anzueignen", betont Harather. Gemeinsam mit einem Team aus Kunst- und Architekturschaffenden und mit Studierenden der Lehrveranstaltung "Soziales Lernen in kreativen Prozessen" erforscht sie mit Kindern und Jugendlichen vor Ort, wofür junge Menschen Platz brauchen.
Der Bus ist Rückzugsort, Raum zur Entfaltung und Bastelstation zugleich. Zusätzlich gibt es ein vielfältiges Programmangebot: Wer sich sportlich betätigen will, kommt am besten samstags. Wer Musik machen will, ist bei "Soundtown" am Donnerstag gut aufgehoben. Bei sogenannten "Grätzlreisen" geben die Schüler den Ton an und führen in ihrer Gegend herum, zeigen, wo sie sich gerne aufhalten und wo nicht, und erkunden gemeinsam die Umgebung. Schreibwerkstätten, Fußball spielen, zeichnen, der Kreativität seien keine Grenzen gesetzt. Ziel sei es, die Wahrnehmung dafür zu schärfen, wie vielfältig man den öffentlichen Raum nutzen kann - auch ohne dafür Geld ausgeben zu müssen.
"ICH BRAUCHE PLATZ!" wurde als Zusammenarbeit des Instituts für Kunst und Gestaltung der TU Wien mit der Institution KÖR (Kunst im öffentlichen Raum) sowie der IBA_Wien entwickelt, für die es sich als eines von rund 100 Vorhaben qualifizieren konnte. Die IBA stellt sich von 2016 bis 2022 die Frage: "Wie wohnen wir morgen?" Ziel ist es, den Wiener Wohnbau für die Zukunft fit zu machen. Ein Zwischenstand über die Projekte wird bis 22. Oktober im Rahmen von Baustellenführungen, Diskussionsveranstaltungen, Buchpräsentationen, Schulworkshops uvm. an verschiedenen Standorten in Wien präsentiert.
Endstation Sehnsucht
Die Türen des Bus-Labors stehen bis zum 11. Oktober täglich von 16 bis 19 Uhr für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren offen, danach zieht es weiter: ob in die Seestadt Aspern, in einen Gemeindebau oder in ein ruhiges Winterquartier, das wird erst noch entschieden.
"Das ist der Lieblingsplatz der Kinder", deutet Harather auf den hinteren Teil des Busses, der zu einer Art Lounge-Abteil mit Liegeplätzen, Pölstern und Co. ausgebaut wurde. Corona hat auch hier zugeschlagen, die Worte "ICH BRAUCHE PLATZ!" bekommen im Angesicht von Babyelefanten und 1,5 Metern Sicherheitsabstand einen leicht bitteren Beigeschmack. In einem Bus, in dem sich Tische, Sitzgelegenheiten und Arbeitsflächen befinden, ist das Abstandhalten nicht so einfach. Viele Programmpunkte finden im Freien statt - solange das Wetter es zulässt. Acht, maximal neun Leute dürfen sich zurzeit im Bus aufhalten, davon zwei bis drei Personen aus dem Projektteam.
Ein wenig verloren hängt im Drehgelenk des Busses eine Discokugel. So wie die Scheinwerfer und die Soundanlage, die den Studierenden ein besonderes Anliegen war, bleibt sie seit Monaten ungenützt. Party auf so engem Raum - in Zeiten von Corona kein Thema.
Ein unbekanntes Flugobjekt
Dass es auch in einer Stadt wie Wien, die 2019 zum zehnten Mal zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde, mehr als genug Bedarf für sozial- und umwelttechnisch nachhaltige Projekte gibt, wird zum Beispiel in Favoriten deutlich. Im zehnten Wiener Gemeindebezirk ist Grau die vorherrschende Farbe, Begrünung oder Sitzgelegenheiten sind Mangelware - eine Tatsache, der das Projekt LiLa4Green entgegenzuwirken versucht.
Unter der Einflugschneise Richtung Schwechat liegt ein ungewöhnliches Flugobjekt. Es ist ein Teppich aus Gras, von weißen Wolken aus Holz von der Straße abgeschirmt, zwischen tristen Häuserwänden, links und rechts von parkenden Autos umzingelt. Darüber hängen echte, graue Regenwolken, aus dem Gras tropft das Wasser auf den darunterliegenden Asphalt. "Es klingt ein klein wenig übertrieben, aber im zehnten Bezirk ist es tatsächlich eine Demonstration, einen Parkplatz zu kapern", erklärt der für die Gestaltung verantwortliche Landschaftsarchitekt Hannes Gröblacher mit einem Zwinkern. Der Fußabtreter ist nämlich ein sogenanntes "Demonstrationsprojekt" - also ein Projekt, das grüne Infrastruktur veranschaulichen soll.
Flieg mit mir um die Welt
LiLa4Green ist ein weiteres Projekt, das sich für die IBA_Wien qualifiziert hat. Der Name steht für "Living Lab for Green" und weist auf die Zusammenarbeit von Forschern und Nutzern hin. Die Anrainer sollen aktiv in das Projekt eingebunden werden und konnten in vier sogenannten "grünen Werkstätten" gemeinsam mit dem Austrian Institute of Technology (AIT) sowie unter anderem der TU Wien von 2018 bis 2020 Ideen für Maßnahmen gegen Hitze entwickeln. Einige davon wurden von den Teilnehmern ausgewählt und im Sommer 2020 umgesetzt - zum Beispiel der "fliegende Teppich" in der Erlachgasse: ein lebendiger Rasen, gepflanzt auf ein wellenartiges Konstrukt, das zu einer Reise ins Morgenland einzuladen scheint. Dafür wurde unter anderem anhand einer mikroklimatischen Karte erarbeitet, an welchen Orten es im Sommer besonders heiß wird und wo deshalb besonders Begrünungs-Bedarf besteht. Solche kleinen Maßnahmen "ändern nichts am Mikroklima, aber es schafft ein Bewusstsein, dass statt dem Parkplatz auch etwas Grünes da sein kann", erklärt Projektleiterin Tanja Tötzer vom AIT.
Das Bestandsgebiet Quellenstraße zeichnet sich durch Gründerzeitbauten und Wohnhausanlagen aus, Grün ist hier nicht nur politisch gesehen eine seltene Farbe. Innerhalb von drei Jahren soll untersucht werden, wie in einem solchen Gebiet trotz hohem Nutzungsdruck Begrünungen geschaffen werden können.
Dass es schüttet wie aus Kübeln, hält ein paar mutige Interessierte deshalb auch nicht davon ab, an einem Spaziergang durch das Grätzl teilzunehmen, bei dem der aktuelle Stand der Projekte hergezeigt werden soll. Bewaffnet mit Regenschirmen, dicken Jacken und festem Schuhwerk stürzen sie sich in die Fluten - zum Glück für das hippe Publikum sind Hochwasserhosen gerade modern.
Sitzen, Liegen, Äußerln
"Die Reisehöhe von 3.000 Fuß" könne leider nicht erreicht werden, bedauert Gröblacher mit Blick auf den Perser, weil er lediglich als parkendes Objekt zugelassen sei, stattdessen werde er zum Liegen, Sitzen und Entspannen auf einem begrünten Untergrund genützt. Auf einer Stelle ist das Gras trotz Regengüssen verdorrt und gelb - hier habe wohl ein Hund den Teppich zur Erleichterung genutzt, mutmaßt er. Hätte Aladdins Teppich solche Flecken aufgewiesen, hätte Prinzessin Jasmin einem Flug um die Welt vermutlich eher abweisend gegenübergestanden. Grundsätzlich gebe es sehr wenig Vandalismus, die Ideen würden aber nicht von allen gut angenommen, erinnert er sich an "hitzige Wortgefechte" mit dem Tischler, dem das Geschäft gegenüber des "fliegenden Teppichs" gehört.
An den Orient erinnert auch ein Parklet, also ein Stadtmöbel auf ehemaligen Parkplatzflächen, ein paar Straßen weiter. Sitzgelegenheiten aus hellem Holz, umrahmt von Blumenkisten, laden hier bei schönerem Wetter zum Sitzen ein. Der anhaltende Regen schiebt nicht nur dem einen Riegel vor, auch das kaskadenartige Bewässerungssystem, wie man es aus typisch arabischen Gärten kennt, wird wohl länger nicht benötigt werden.
Damit sich Workshop-Teilnehmer grüne Lösungen besser vorstellen können, kommt Augmented Reality (Anm.: eine computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung) zum Einsatz. Die Firma GREX-IT hat zu diesem Zweck eine App entwickelt, mit der auf dem Bildschirm von Tablets um bestimmte Markierungen herum Bäume, Parklets oder auch ganze Wäldchen entstehen können. Die wasserfesten Spaziergänger lassen es sich nicht nehmen, dem Nieseln zum Trotz minutenlang um ein auf den Boden gemaltes LiLa4Green-Logo herumzustehen und durch die Kamera eines Tablets die 'verbesserte' Umgebung zu beobachten. Das größte Problem bereite die Darstellung von Schatten, so Dietmar Millinger von GREX-IT, daran arbeite man seit Längerem ohne Erfolg, weshalb die Darstellungen noch nicht völlig lebensecht wirken. Ein falscher Schritt, und schon ragt der Kopf einer Frau aus dem Parklet hervor, das eine zweite gerade auf ihrem Display ins Leben gerufen hat. Ein Mann geht staunend durch einen nur für ihn sichtbaren Wald. Auf die Frage, um welche Bäume es sich handelt, erklärt Millinger: "Die sind aus dem Internet gefladert."
Eine Handvoll Grün, verteilt über den zehnten Bezirk; ein Bus, der Kindern Perspektiven aufzeigt - zwei konträre Vorhaben, die, gemeinsam mit den anderen für die IBA_Wien ausgewählten Projekte, ein gemeinsames Ziel haben: die Stadt der Zukunft. Egal ob man die Reise dorthin mit einem fliegenden Teppich oder mit einem Linienbus unternimmt, letztendlich steuern beide dieselbe Endstation an. Was dabei herauskommt, wird sich zeigen.
Von Anna Riedler / APA-Science
Service: Diese Meldung ist Teil der Reportage-Reihe "APA-Science zu Besuch ...": http://science.apa.at/zubesuch