#CoronaAlltag: Die Macht der Bilder
Als Kulturwissenschaftlerin mit einem starken Schwerpunkt im Wissenschaftsfeld der Medical Humanities bin ich seit Jahren an den Zusammenhängen zwischen Medizin und Kultur interessiert; vor allem an deren Verflechtung mit kollektiven und individuellen Identitätsbildungsprozessen und den Krankheitsbildern, die diese Kultur generiert (https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25391918, https://www.springer.com/de/book/9783319495347).
Welche Macht haben Krankheitsbilder und Narrative? Warum werden bestimmte Krankheiten besonders sichtbar? Welche Bildsymbolik begleitet sie und wie ändert sie sich mit der Zeit? An welchen Stigmatisierungs- und Diskriminierungsprozessen ist diese beteiligt? Wie wird sie rhetorisch für vielerlei (politische) Zwecke missbraucht? Letztendlich: Wie beeinflussen diese Bilder und Narrative unseren Alltag und unsere Selbstwahrnehmung?
Jede Krankheit hat ihre eigene Ikonographie
Es mag uns nicht bewusst sein, aber jede Krankheit hat ihre eigene Ikonographie – also ihr eigenes Repertoire an Bildern und Symbolen, die exemplarisch für sie stehen. Historisch gesehen waren das oft Darstellungen davon, wie eine Person, die daran erkrankt ist, angeblich ausgesehen hat. So wurde zum Beispiel das Bild einer jungen, blassen Frau im 19 Jh. zum Gesicht von Tuberkulose.
Dagegen gehörten maskierte Frauen, Prostituierte, exotische Blumen und Schlangen zum visuellen Repertoire von Syphilis. Dabei wurde oft die Krankheit als Strafe Gottes für eigene Sünden gesehen und – gleichzeitig – als ein rhetorisches Mittel, das dem Betrachtenden nahelegt, ein moralisches Leben zu führen und dass nur das Vertrauen in das Göttliche Erlösung bringen kann. Daher werden in solchen Visualisierungen auch Verhaltensmuster hervorgebracht.
Die Macht der Bilder
Die Macht der Krankheitsikonographie wird uns bewusst, wenn wir uns vor Augen führen, welchen (unterschiedlichen) Zwecken die Bildsprache des Coronavirus dient. Visuelle Darstellungen, die im Zusammenhang mit Corona kursieren, sind selten „objektiv“ oder neutral, sondern haben ganz bestimmte Funktionen. Nicht selten erwecken sie konkrete Emotionen oder folgen einer bestimmten (politischen) Agenda.
Diese und andere Anliegen, die zentral für die Medical Humanities sind, eruiere ich, gemeinsam mit anderen Expert/innen (aus Kultur-, und Medienwissenschaften, Literaturwissenschaften, der Geschichte, Soziologie und Anthropologie, den Theaterwissenschaften, den angewandten Künsten, und, nicht zuletzt, der Medizin und Medizindidaktik), meinem Team und den Studierenden in der Ringvorlesung „Medical Humanities: Cultures, Sciences, Media“ (https://anglistik.univie.ac.at/staff/staff/pietrzak-franger/medical-humanities/), die Anfang Mai am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien angeboten wird und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin/Medical Humanities an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entstanden ist.
Medical Humanities: An der Schnittstelle von Kultur und Medizin
Die Medical Humanities sind ein interdisziplinäres Arbeitsfeld an der Schnittstelle zwischen u.a. Medizin, Kultur(wissenschaften), Ethik, und den Künsten. Dabei widmen sie sich den individuellen Erfahrungen von Kranken und Ärzten genauso wie der Frage nach der Darstellung von Gesundheit und Krankheit (in verschiedensten Medien), den Machtverhältnissen im Medizinbetrieb und den zugrundeliegenden Ideologien und kulturellen Praktiken. Die aktuelle Situation bietet, trotz und gerade wegen aller Dramatik, die Möglichkeit, Medical Humanities in der Praxis zu erleben. Neben tiefsitzenden viszeralen Ängsten, die das Corona-Virus schürt, rücken auch ethische und soziale Fragen in den Mittelpunkt.
Wie lassen sich beispielsweise rassistische Übergriffe auf Menschen asiatischer Herkunft auf mediale Darstellungen von Covid-19 als „China-Virus“ zurückführen? Wie beeinflussen Politik und Wissenschaft die öffentliche Meinung? Welche Rolle haben die Medien bei der Generierung von Wissen, Ansichten, und Verhaltensweisen in Bezug auf die Krankheit? Und: Welche Möglichkeiten bieten die sozialen Medien dem Einzelnen in Zeiten von social/physical distancing, sich Gehör zu verschaffen, Solidarität zu zeigen und sich kreativ auszudrücken? Bei all diesen Fragen spielen nicht nur Sprache, sondern auch Bildsprache, Farbwahl, Visualisierungen und Layout eine große Rolle.
Ringvorlesung wandert ins Web
Im Zuge von social/physical distancing findet unsere Vorlesung weitgehend online statt; hierbei werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die uns Technologien und das Internet heute bieten. Es findet ein reger Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden statt. Außerdem werden Teilnehmer/innen dazu angeregt, sich kreativ mit der aktuellen Corona-Lage auseinander zu setzen, zum Beispiel in Form von Foto-Essays („Corona Chronicles“).
Auch Externe sind eingeladen, mit uns in Kontakt zu treten und mitzudiskutieren – über E-Mail, Twitter (#MedicalHumanitiesUniVie @uni_vienna) oder bald auch über unseren Blog. Jeder ist ausdrücklich willkommen, persönliche Erfahrungen, Geschichten und Beobachtungen im Zusammenhang mit Corona mit uns zu teilen, sich kreativ auszudrücken, und ganz eigene Antworten auf einige der oben gestellten Fragen zu finden.
Zur Person: Monika Pietrzak-Franger ist Professorin für Anglistische Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Wien und Mitglied der Arbeitsgruppe Geschichte der Medizin/Medical Humanities an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Mit Schwerpunkten in Medical Humanties und (Trans-)Media Studies arbeitet sie u.a. an internationalen Projekten zur Kultur und Medizin.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.