#CoronaAlltag: Ruhe und Beunruhigung
In den vergangenen Wochen prägten zwei widerstreitende Gefühle meinen Alltag: auf der einen Seite Ruhe, Gelassenheit und Entschleunigung, auf der anderen Seite große Beunruhigung. Anfang März war ich gerade noch rechtzeitig von Deutschland nach Südtirol zurückgekommen (in einem fast leeren Zug), am nächsten Tag wurde die Grenze für Reisende geschlossen. Mehrere Wochen im Home Office zu arbeiten, ist keine große Herausforderung für mich, da sich meine berufliche Tätigkeit ohnehin zu einem großen Teil vor dem Computer abspielt. Emails beantworten, wissenschaftliche Publikationen schreiben oder redigieren, Forschungsanträge schreiben, Tagungen vorbereiten, studentische Abschlussarbeiten betreuen, Termine koordinieren: All das lässt sich in diesen Wochen der "verordneten Häuslichkeit" bequem von zu Hause aus erledigen. Die Tätigkeiten, für die persönliche Kontakte notwendig sind, können hoffentlich bald wieder wie gewohnt aufgenommen werden. Einzige Hürde in meinem gegenwärtigen beruflichen Alltag ist die Lehre. Meine Vorlesungen muss ich vor dem Computer halten. Da ich mit meinen Studierenden gerne intensiv diskutiere und die wissenschaftlichen Sachverhalte im Diskurs vermittle, fehlt mir der persönliche Kontakt im Seminar- oder Vorlesungsraum. Auch lässt sich ein "klassischer" Lehrbetrieb an der Universität nicht innerhalb weniger Wochen komplett ins Digitale verlagern. Wer hier in Euphorie verfällt, hat e-Learning nicht verstanden. Es ist vielmehr eine Durststrecke, die sowohl Lehrende als auch Studierende überwinden müssen.
Ein neues Buch entsteht
Die mehrwöchige Ruhe in den eigenen vier Wänden, untermalt von den Frühlingsgeräuschen und -düften, die von außen hereindringen, nutze ich gewinnbringend. Große Teile meines neuen Buchs sind bereits geschrieben. Nach meinem im vergangenen Jahr im Springer-Verlag erschienenen interdisziplinären Fachbuch zur Ökosystemrenaturierung möchte ich nun mit meinem neuen Buch ein Plädoyer für den Erhalt und die Wiederbelebung traditioneller Kulturlandschaften auf der Erde vorlegen. Mit der Corona-Krise hat sich eine nicht vorhergesehene Kulisse aufgetan, vor der dieses Ansinnen wichtiger denn je erscheint. Das weltweit stetige Wachsen der Städte und die Intensivierung landwirtschaftlicher Nutzflächen auf allen Kontinenten mit dem Ziel, immer noch mehr Agrarprodukte zu produzieren, muss, auch vor dem Hintergrund der fortschreitenden Globalisierung überdacht werden. Den traditionellen Kulturlandschaften mit ihrer natürlichen und von Menschenhand gemachten Vielfalt, sowie das häufig über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende gewachsene Wissen einer nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen ist nicht nur lohnenswert, sondern erscheint gerade jetzt unabdingbar. Die Corona-Krise ist, soweit sich das mit den derzeitigen Fakten beurteilen lässt, eine Krise des urbanen Raums.
Die Welt verändert sich - aber wohin?
Neben dieser Gelassenheit und Ruhe, mich ungestört dem Schreiben eines neuen Buchs zu widmen, hat mich aber auch große Unruhe befallen. Wie schnell sind Städte abgeriegelt, Grenzen geschlossen, menschliche Kontakte untersagt worden, ja wie rasch ist in vielen Regionen der Erde das öffentliche Leben auf ein Minimum zurückgefahren worden, gar komplett zusammengebrochen? Wie schnell werden essentielle demokratische Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit aufgehoben? Gottesdienste, zu denen sich die Menschen ganz besonders auch in Krisensituationen, seien sie familiär oder beruflich, zusammenfinden, um Halt und Trost im Beisammensein zu finden, sind ausgesetzt worden. In meiner Gemeinde, in der ich in Südtirol wohne, und wo man sich grüßt, wenn man sich begegnet, hasten nun die Menschen mit Mundschutz verängstigt aneinander vorbei. Selbst ein abgelegener Weg am Dorfrand, der von den Dorfbewohnern bisweilen zu einem kurzen Spaziergang genutzt wird, wird nun von einer Streife der Carabinieri kontrolliert.
Und dies, weil ein Virus sich in rasender Schnelligkeit verbreitet und vielen Menschen den Tod bringt! Das Beunruhigende dabei ist: wir hätten es wissen und uns darauf vorbereiten können. So wie wir eigentlich in vielen Bereichen bereits sehr genau wissen, wie es um unseren Planeten bestellt ist. Die globalen Umweltprobleme wie Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt, Wasserknappheit in Trockengebieten, Boden- und Wasserverschmutzung durch Nähr- und Schadstoffe sind hinreichend durch wissenschaftliche Fakten belegt. Ebenso mangelt es nicht an Lösungsmöglichkeiten und Strategien, Nachhaltigkeit ernst zu nehmen und auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene in die Tat umzusetzen. Die epidemische Verbreitung des SARS-Virus vor ca. 18 Jahren hat uns bereits eindrücklich eine negative Seite der Globalisierung aufgezeigt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat unter Auswertung der damaligen Fakten zum SARS-Virus auf eben dies hingewiesen, was gegenwärtig den gesamten Globus in eine Krise stürzt. Corona ist keine unvermeidbare Naturkatastrophe, die über uns aus dem Nichts hereingebrochen ist. Das Virus hat offensichtlich den Weg von Fledermäusen über Wildtiere, die auf chinesischen Märkten zum Verzehr angeboten werden, zum Menschen gefunden. Als Wissenschaftler frage ich mich zunehmend beunruhigt: Braucht es immer erst eine Katastrophe und vielleicht auch noch eine mit diesem globalen Ausmaß, um das Ruder herumzuwerfen? Ermutigend ist, dass die Politik in dieser Krise auf die Wissenschaft hört und die Fakten ernst nimmt. Nach den in jüngster Vergangenheit zunehmend aufgetretenen Fällen von Plagiat, Fake News und dem schleichenden Verlust an Freiheit von Wissenschaft und Forschung möge man sich nun beherzt den wissenschaftlichen Fakten zuwenden. Aus der gegenwärtigen Krise zu lernen und die richtigen Schlüsse zu ziehen, wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein. Einen guten Weg zu finden, dass uns ein Virus in Zukunft nicht dermaßen überrollt und aus der Bahn unseres gewohnten öffentlichen Lebens wirft, sind wir den zukünftigen Generationen schuldig.
Zur Person: Prof. Dr. Stefan Zerbe ist Professor an der Freien Universität Bozen und Leiter der internationalen Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Landschaftsökologie und Biodiversitätsforschung, die sich mit der Renaturierung von Landnutzungssystemen beschäftigt, insbesondere der Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und anderer wichtiger Ökosystemleistungen. Die Arbeitsgruppe hat Forschungs- und Lehrprojekte weltweit, mit einem Schwerpunkt in Zentralasien und Lateinamerika.
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.