#CoronaAlltag: "Wildes Denken", der Corona-Virus und die Schamanen aus dem Mostviertel
Ich bin Ethnologe und habe ein Faible für Schamanismus und Magie: Mir wurde ein Video zugespielt. Ein Mann hält einen Zettel in die Kamera. Darauf zu sehen: ein paar Halbkreise und die Ziffernkombination 88 44 57 99. Der Mann in dem geheimnisvollen Video rät: Man solle den Zettel mit den Symbolen und den Zahlen unter einen Krug Wasser stellen und dieses Wasser danach trinken. Damit schütze man sich vor Covid-19.
Ich erinnere mich an den großartigen französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss und dessen "Wildes Denken", ein Standardwerk zum Verstehen menschlicher Gesellschaften, die - etwas vereinfacht gesagt - auf mythischer Weltanschauung beruhen. Lévi-Strauss ging davon aus, dass das "wilde Denken" in modernen Industriegesellschaften in neuen Manifestationen eine Renaissance erlebe. Ein wahres Wort. Der "Wilde" in dem Video, von dem die Rede ist, stammt nicht vom Oberlauf des Weißen Nils, sondern aus dem Zillertal. Er bezeichnet sich selbst nicht als Schamanen oder Voodoo-Priester, er ist Allgemeinmediziner. Er hat ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen und empfiehlt Heilzahlen und Halbkreise gegen tödliche Viren. Auch der Betriebsarzt der Caritas Wien warb auf seiner Facebook-Seite mit den Zahlen und den Halbkreisen, die nicht von ungefähr antiviral wirken würden. Der Arzt meint: Mit den Halbkreisen verwirren wir die "künstlich geschaffenen, mutierten Viren", die bilden zusammen ihrerseits nämlich kreisförmige Verbindungen. Alles klar!
Ein Allgemeinmediziner mit einer Praxis in Wien zieht einen anderen Joker aus dem Ärmel: Er bewirbt Therapieflaschen mit "antiviraler" Wirkung. Was in den Flakons um 50 Euro drinnen ist, das ist gleichsam unbekannt wie irrelevant. Die Glasfläschchen müsse man sich täglich nur ein paar Minuten auf die Brust legen. Die Schwingungen gingen aus der Flüssigkeit in der Flasche heilsam auf den Körper über. Ich habe gut zwei Jahre in Afrika gelebt und manchen Heiler erlebt, wage aber zu behaupten: Mit dem Therapieflaschen-Schmäh riskierte ein Heiler in entlegenen Dörfern am Kongo oder am Nil eine Tracht Prügel.
Keinen Genierer kennt auch manche Apotheke. Zu Beginn der Corona-Krise fragte ich - inkognito und naiv - bei zwei Dutzend Apotheken nach homöopathischen Mitteln, die mich und meine Familie verlässlich vor Corona schützen würden. Eine steirische Apotheke empfahl mir etwas Exklusives vom Haus: "Fünf Globulis lutschen und nach zehn Minuten nochmals fünf Globulis." Eine Wiener Apotheke riet mir zu "informierten Schwingungsglobulis" aus der Werkstatt einer Dame, die in Gleisdorf als "Sonnenhexe" firmiert. Nur eine Handvoll Apotheken machte mich darauf aufmerksam, dass es keine Medizin gegen Covid-19 gibt und ich mir besser ordentlich die Hände wasche.
Ich bin Ethnologe und schreibe seit zwei Jahren über "wildes Denken" hierzulande: In meinem Blog "Stiftung Gurutest" im Standard thematisiere ich Pseudomedizin - ich weigere mich, sie "Alternativmedizin" zu nennen - und Esoterik. Es gibt viel zu schreiben. Mittlerweile bin ich überzeugt: In den Vierkantern des Mostviertels tummeln sich mehr spirituelle Heiler als in den Rundhütten am Oberlauf des Weißen Nils. "Wildes Denken" ist allgegenwärtig, Bürgermeister statten ihre Schwimmbäder mit Grander-Anlagen aus, Ärzte bieten "Aurachirurgie" an, findige Sägewerksbesitzer verkaufen "Mondholz" sauteuer, Seuchenfreunde schicken ihre Kinder zu Masernpartys, Automechaniker launchen durchgestylte Produktlinien mit Weintraubenkernextrakten, die so gut wie jeden Krebs in jedem Stadium heilen sollen.
Der ethnologischen Arbeitsweise bleibe ich treu. Ich hörte einst dem "Regenmacher" in Afrika geduldig zu und ließ mir erklären, wie er den Regen macht. Und stellte dann die Frage, die ein Ethnologe zu stellen hat: Warum jagt den Regenmacher niemand aus dem Dorf? Ich stelle die Frage so: Warum jagt hierzulande niemand einen Arzt oder Apotheker aus dem Dorf, der Zuckerkugeln ohne Wirkstoffe als Medizin verschreibt oder verkauft? Auf diese Frage habe ich zumindest eine vorläufige Antwort. Die höfliche Version: Der Wunsch nach einer Etablierung des Irrationalen als ein kollektiv akzeptiertes Phänomen im Mindset einer Gesellschaft ist eine Konstante, unabhängig von Kultur und Entwicklungsstufe. Die unhöfliche Erklärung: Sowohl am Kongo als auch an der Ybbs erheben sich jeden Morgen eine ausreichende Anzahl von Menschen aus den Federn, die für ein paar geistig flinke Scharlatane ein willkommener Anlass sind, ihre Dienste als Schamane anzubieten oder sich als Guru zu versuchen oder einfach, um Schlangenöl zu verkaufen.
Zur Ehrenrettung "primitiver" Kulturen sei angemerkt: in der ethnografischen Literatur mangelt es nicht an Hinweisen darauf, dass die porträtierten Menschen sehr wohl individuellen Widerstand gegen ihre Schamanen entwickeln. Man muss nur sich nur gut einlesen. Es gibt keine homogenen Gesellschaften mit homogenem Denken. Der britische Ethnologe Edward Evans-Pritchard forschte in den 30er-Jahren jahrelang im Sudan, sein Buch über "Hexerei bei den Azande" ist ein Standardwerk. Er beschreibt eine Gesellschaft, in der Magie eine scheinbar dominante Stellung einnimmt, zitiert aber auch den einen oder anderen Spielverderber aus dem einfachen Volk: "Die meisten Medizinmänner sind Lügner und einzig daran interessiert, reich zu werden." Der Mann der Azande in Zentralafrika bringt es auf den Punkt, besser vielleicht als die Apothekerkammer. Die orakelt auf ihrer Webseite zur Homöopathie: "Die Homöopathie entfaltet ihre Stärke dort, wo die Seele eine besonders große Rolle spielt." Wildes Denken, wir werden noch länger damit konfrontiert sein, wie es scheint.
Zur Person: Christian Kreil ist Ethnologe und arbeitet als Texter, PR-Berater und Autor. Er schreibt seit zwei Jahren im Blog "Stiftung Gurutest" über esoterischen und pseudomedizinischen Humbug. Derzeit arbeitet er am Buch "Fauler Zauber".
Service: Dieser Gastkommentar ist Teil der Rubrik "Corona - Geschichten aus dem Krisen-Alltag" auf APA-Science: http://science.apa.at/CoronaAlltag. Die inhaltliche Verantwortung liegt beim Autor/der Autorin.