"Senior" Scientist, und noch kein bisschen gealtert
Die promovierte Biotechnologin Elisabeth Mertl ist seit knapp 10 Jahren am Österreichischen Forschungsinstitut für Chemie und Technik (OFI). Sie begann dort mit der Analyse von Wasserproben, arbeitet heute mit Zellkulturen und schloss vergangenes Jahr ihre Dissertation ab. 2019 bekam sie den ACR Woman Award für tierschonende Testverfahren. Verbandartikel, Zahnarztbohrer oder Hüftimplantate werden von ihr genau geprüft und ihre neuen Methoden ohne Versuchstiere sind heute Teil der ISO-Norm. Ihr Werdegang klingt sportlich. Doch wie verhält man sich als "Senior" Scientist, wenn man erst 28 Jahre "jung" ist?
An diesem sonnigen Julitag findet sich Elisabeth Mertl nicht direkt in ihrer Wirkstätte, dem Labor und den dort gelagerten Zellkulturen, ein. Nein, sie bekommt Besuch von APA-Science und wirft erst einmal die Klimaanlage im Besprechungsraum in Klassenzimmergröße an. Der befindet sich im ersten Stock des OFI. Es ist ein im sterilen Labormantel-Weiß gehaltener Raum, dessen einziger Farbakzent eine grüne Zimmerpflanze namens Glücksfeder ist. Geschwind werden Wassergläser gefüllt, Sitzplätze in einem Mindestabstand von zwei Metern eingenommen, Mikrofone eingeschaltet und dazwischen viel gelacht. Mit Beginn des Interviews ist klar, bei Elisabeth Mertl handelt es sich um eine agile Person.
Dabei sei "Senior" doch ein Begriff des Alters? Auf die Frage hin, ob sich Mertl alt fühle, lacht sie gleich zu Beginn lauthals und schießt mit der Antwort raus: "Nein, mein Leben ist dafür noch immer recht jung und bunt gestaltet und mit viel Spaß in der Freizeit. Ich verbinde Alter mit ernsten Themen wie Familiengründung und Hausbauen. Davon bin ich noch weit entfernt, wobei ich im Freundeskreis schon bemerke, dass die ersten Schritte gesetzt werden." Was sie allerdings schon feststellt, dass andere Abteilungen mittlerweile auf ihr Know-how zurückgreifen: "Es fühlt sich gut an, wenn man da Bestätigung erhält." Denn das aus dem 17. Jahrhundert stammende Wort Senior steht nicht alleinig für "älter" sondern auch für "reifer" und bringt in Mertls Fall ihre jahrelange Berufserfahrung zum Ausdruck.
Medizinprodukte ohne Tierversuche
Mertls berufliche Karriere am OFI begann bereits zu Studienzeiten im Jahr 2011 mit Standardanalysetests im Trinkwasserbereich. Sie untersuchte, ob Inhaltsstoffe der Gefäße oder Rohre in das Wasser übergehen. In ihrem heutigen Spezialgebiet den Zellkulturen überprüft sie, ob Stoffe allergische Reaktionen auf der Haut verursachen. Ihr Forschungsziel ist es, In-vitro- Testmethoden zu entwickeln, die Tierversuche obsolet machen.
Die im Juni 2020 veröffentliche Tierversuchsstatistik des Wissenschaftsministeriums zeigt für 2019 eine Erhöhung an Tierversuchen von 3,6 Prozent zum Jahr davor. Das bedeutet, dass 246.315 Tiere im Jahr 2019 eingesetzt wurden, worunter die Mäuse mit 205.858 die größte Tiergruppe ausmachten. Derzeitige Förderungen für Ersatzmethoden werden ab 2021 auf 600.000 Euro jährlich verdoppelt und vom Wissenschaftsfonds FWF vergeben. Mertl kennt diese Statistik und weiß, dass ihr Bereich der In-vitro-Tests für Medizinprodukte weiter fortgeschritten ist als die In-vivo-Tests an lebenden Tieren. Letztere beziehen sich sehr stark auf Immunreaktionen oder Pharmakokinetik bei Versuchen mit Arzneimitteln. "Der Impakt bei Medizinprodukten ist sehr hoch, aber andere Bereiche müssen hier noch nachziehen", so Mertl.
Tiere liegen Mertl sehr am Herzen, auch wenn sie selbst nie eines besaß. Sie war immer viel mit ihren Eltern auf Reisen und das Halten eines Haustiers, besser gesagt das Abgeben für einige Wochen, damit nicht vereinbar. Dafür verbrachte sie sehr viel Zeit bei ihrer besten Freundin, deren Umgebung mit vielen Meerschweinchen, Hühnern, Hasen und Hunden einem Bauernhof glich. Mertl: "Generell bin ich der Meinung, dass Lebewesen - sei es Mensch oder Tier, bei Pflanzen ist es ein bisschen anders - das gleiche physische Schmerzempfinden haben und auch emotional Parallelen zu finden sind."
Um ihren Beitrag zu leisten, testet die Biotechnologin den Zustand von Zellen nun anhand von Zellkulturen, die beispielsweise ursprünglich aus Mäusen stammen und im Labor künstlich vermehrt werden. Diese Zellen werden verschiedenen chemisch-gelösten Substanzen ausgesetzt. Sie stammen von medizinischen Produkten wie beispielsweise Hörgeräten, Herzschrittmachern oder Prothesen und werden auf einem 3D-Hautmodell in Handform auf Verträglichkeit getestet.
Neben diesen Irritationsversuchen kann auch die Sensibilisierung getestet werden. Hierfür entwickelte Mertl und ihre Kollegen drei sogenannte "In-vitro-chemico"- Tests, die sich allergische Reaktionen zu Nutze machen. Untersucht wird, ob sich aufgetragene Substanzen an ein körpereigenes Protein binden, dieses verändern und so indirekt eine allergische Reaktion auslösen. Eine andere Herangehensweise sei es, den Zellen eine Substanz, bzw. die veränderten Proteine zuzufügen und zu schauen, ob Zellsignale ausgesendet werden, die das Immunsystem aktivieren. Unter diesen Umständen leuchten spezielle Markergene auf. Ein dritter Test untersucht die Reaktion der Immunzellen, nämlich ob Oberflächenmoleküle gebildet werden oder nicht. Diese dienen im Fall einer allergischen Reaktion dazu, die Allergene anzugreifen. Sowohl die Sensibilisierung als auch die Irritation wurde im Rahmen des BioRelation Projekts getestet.
ISO-Norm und ACR Woman Award
Mit solchen und ähnlichen Leistungen hat Mertl nicht nur in der Kollegenschaft aufhorchen lassen. Die Ergebnisse der fünfjährigen Forschungsarbeit am OFI wurden mit der Aufnahme in die ISO-Norm belohnt und sind jetzt ein internationales Verfahren für tierversuchsfreie Testungen im Bereich der Medizinprodukte. "Der Hautirritationstest ist eine alternative Prüfstrategie und ersetzt somit herkömmliche Tierversuche. Es funktioniert und es macht Sinn, ethisch korrekte Methoden zu entwickeln. Das ist meine Driving Force, die Motivation, Dinge möglich zu machen und zu zeigen, was mit Wissenschaft und ein bisschen Überlegen möglich ist und was mit einem neuen Design von Testmethoden erreicht werden kann", sagt die Wissenschafterin ganz enthusiastisch. Einen ähnlichen Antrieb muss auch ihre Biologielehrerin gehabt haben, die Mertl mit ihrer Art Themen aufzubereiten geprägt habe. "Ich habe mich immer auf den Biologieunterricht gefreut. Man hat Antworten auf Fragen gefunden, die man sich schon lange gefragt hat oder an die man gar nicht dachte."
Heute beantwortet Mertl ihre Fragen selbst und erhielt im Oktober 2019 den ACR Woman Award für das BioRelation Projekt. Das Austrian Cooperative Research (ACR) Netzwerk ist ein Zusammenschluss privater Forschungsinstitutionen und zeichnet mit diesem Preis seit 2010 jährlich naturwissenschaftlich-technische Forscherinnen des eigenen Netzwerks aus, um auf deren Leistung aufmerksam zu machen. Mittlerweile ist Mertl Mitglied des nationalen Normenkomitees für Medizintechnik und bei der Implementierung von neuen Methoden im wahrsten Sinne des Wortes hautnah dabei. Auch reist sie regelmäßig auf Kongresse im In- und Ausland, um ihre Methoden in der Community zu präsentieren und Vorschläge einzubringen. "Das ist auch mühsam, weil die Junge, von der sie noch nie was gehört haben, auf einmal mitsprechen will. Da muss man schon fachliche Kompetenz beweisen und irgendwann kennt man meinen Namen", so die Biotechnologin. Die Forscherin glaubt, dass sie auf dem Gebiet ausgezeichnet wurde, weil sie drangeblieben ist, aber auch ein bisschen Glück hatte: "Es ist ein gesellschaftsrelevantes Thema, bei dem sich Leute sehr schnell etwas darunter vorstellen können. Es lässt sich schnell und einfach erklären. Anders ist das bei Grundlagenforschung, bei der die Leute beim Erklären rasch aussteigen."
Spaß an der Arbeit, beim Sport und in fremden Ländern
Der Spaß an der Arbeit steht ihr fortwährend ins Gesicht geschrieben. Auf die Frage, ob weitere Auszeichnungen folgen und es irgendwann einmal der Nobelpreis sein dürfe, antwortet Mertl sehr präzise: "Ich würde mich nicht dagegen wehren. Aber dafür fehlt mir noch mehr Biss. Ich habe im Studium bereits mitbekommen, wie hoch der Konkurrenzdruck in der Forschung ist und wie viel mehr Zeit Kollegen im Labor verbringen können. Dafür habe ich meine Freunde und Freizeit viel zu gern. Ich bin auch schon mal länger in der Arbeit, aber es muss ein maßvolles Commitment sein."
Die gebürtige Burgenländerin aus dem Dorf Ritzing hat ihren Lebensmittelpunkt schon lange in Wien. Üblicherweise radelt sie mit dem Fahrrad in den 3. Bezirk zum OFI und von dort weiter zum Sport. Ein bisschen Klettern, ein bisschen Volleyball, ein bisschen Tennis. Man merkt, ohne die soziale Komponente kann sie einfach nicht. "Ich habe das Glück, einen halbwegs großen und engen Freundeskreis zu haben, mit dem ich auch alle meine Hobbys teilen kann. Ausflüge, Leute besuchen und Neues kennenlernen ist mir wichtig." Das geht im Theater oder Museum ebenso wie am Tennisplatz gleich nebenan mit ein paar Arbeitskollegen. Wenn sie das Fernweh packt, ist es freilich mit dem Tennisplatz nicht mehr getan. Bei mehrwöchigen Urlauben erspürt sie fremde Kulturen und unterschiedliche Lebensweisen am liebsten mit nacktem Fuß: "Ich mag das Gefühl gerne, wenn man da irgendwo barfuß ist. So werden Gedanken an Urlaubsorte auch ein Zufluchtsort, wenn es auf der Arbeit gerade stressig ist", sagt sie ganz ruhig.
Genau diese Ruhe erwartet sie auch von Wissenschaftern. Kein impulsives Drauflosarbeiten, sondern Augen und Ohren für die perfekte Lösung offenhalten. "So wie ein trockener Schwamm, der aufnahmefähig ist." Und weiter: "Wissenschaft ist für mich, den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Frage nach dem Wie und dem Warum zu stellen, Dinge zu kombinieren und das Wissen sinnvoll zu nutzen, welches man daraus generiert, ohne in Routine zu fallen." Diese Kombinationsfähigkeit hat sie bereits in der Kindheit erworben. Beim Staudammbau fragte sie sich immer, warum hält das eine Stäbchen dort und das andere nicht oder wie lässt sich die Lücke am besten schließen. Zwar war sie zu diesem Zeitpunkt noch weit von mathematischen Berechnungen entfernt und dennoch auf die Problemlösung sehr bedacht. Trotzdem hält sie Schlampigkeit für ihre größte Schwäche. Denn würde Mertl ihre Versuche detaillierter protokollieren, könnte sie mit ihren Notizen vielleicht neue Fragestellungen rascher lösen, mutmaßt die Forscherin.
Neue Herausforderungen
Aktuell beschäftigt sie sich mit ganz unterschiedlichen medizintechnischen Fragestellungen. Im Projekt "Ortho.flex.c" geht es etwa um die Entwicklung eines neuen Materials für Knochenschienen. Im Gegensatz zu Titan soll das neue Material für Röntgenstrahlen durchlässig sein. Der Knochenbruch bzw. der Heilungsprozess wäre dann nicht mehr verdeckt, sondern könne beobachtet werden.
Im Mittelpunkt des Projekts "Meditex" steht wiederum die Frage, ob in der Medizin einsetzbare Textilien hautverträglich sind und zudem die natürliche elektrische Leitfähigkeit der Körperoberfläche einfangen und weiterleiten können. Für den künstlichen Finger einer Prothese könne das bedeuten, dass er sich ohne motorischen Antrieb bewegt. Nachdem Haut und Prothese über dem Textil zusammentreffen, soll die elektronische Spannung vom Körper eingefangen, über das Gewebe transportiert und bis zur künstlichen Fingerspitze gelangen. Der Finger bewegt sich in Folge ganz eigenständig durch weitergeleitete Körperimpulse.
Wissenschaft kann faszinieren. Allerdings schmunzelt Mertl, wenn sie sich an ihren ersten Arbeitstag beim OFI zurückerinnert: "Es war ein erster April und es war gar nicht so lustig. Ich war mit Abstand die Jüngste und die vielen neuen Eindrücke haben mich schon eingeschüchtert." Ihr älterer Bruder, der zu diesem Zeitpunkt im Unternehmen war und ihr die Stelle vermittelt hatte, gab ihr die nötige Sicherheit. Der Tag liegt bald 10 Jahre zurück und Mertl ist heute selbst Ansprechpartnerin für Studierende. "Das OFI ist für mich ein bisschen die Bestätigung, dass es viele Chancen gibt, die man auch erkennen und nutzen muss." Kritik nutzt sie, um herauszufinden woran es noch hapert und Lob als Balsam für die Seele. Nur eine Position in Afrika oder anderen fremden Ländern könnte sie eines Tages reizen, das OFI zu verlassen. Denn eine Firma, die ihr ein noch abwechslungsreicheres Themengebiet überlasse, sei ihr noch nicht untergekommen.
Dass Elisabeth Mertl eine Optimistin ist, muss sie am Ende des Gesprächs und auf dem Weg ins Labor dann auch schon gar nicht mehr sagen. Und dennoch beantwortet sie auch diese letzte und scheinbar schwierige Frage nach ihrem Wesen in Bestnotenart.
Das Gespräch führte Sandra Fleck / APA-Science
Service: Diese Meldung ist Teil der Reportage-Reihe "Im Porträt" auf APA-Science: http://science.apa.at/portrait