Die Vernetzung des Wissens
Die Zeit für wissenschaftliche Einzelkämpfer ist wohl endgültig abgelaufen. Open Access forciert den freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur, Plattformen wie Academia.eu oder ResearchGate fördern den Austausch von Forschern untereinander. Und auch was neue Forschungsgebiete betrifft, steht der Wissenschaftsbetrieb im Zeichen der inter- und transdisziplinären Vernetzung: Die Grenzen zwischen den Disziplinen lösen sich auf.
"Grenzenlosen" Forschungsbedarf gibt es allein schon durch die großen gesellschaftlichen Problemfelder der näheren und mittleren Zukunft mehr als genug. In einer Umfrage, die APA-Science unter Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft durchgeführt hat, wurden vor allem die "Grand Challenges" als Triebfedern genannt. "Klimawandel, demografischer Wandel und veränderte Mobilitätsanforderungen der Zukunft sind Themen, die nur technologie-, disziplin- und politikfeldübergreifend zu bearbeiten sind", erklärt etwa Petra Schaper-Rinkel vom Austrian Institute of Technology (AIT).
Durch die Kombination bestehender Wissenschaftsdisziplinen oder deren innerer Ausdifferenzierung entstehen so ständig neue Bereiche wie Organische Elektronik, Exo-Meteorologie oder Synthetische Biologie. Dabei fällt schon eine Bestandsaufnahme der bestehenden wissenschaftlichen Disziplinen nicht leicht. Systematisierungen und Nomenklaturen unterscheiden sich je nach Zugang durchaus beträchtlich. Allein die deutschsprachige Wikipedia listet mehr als 340 Einzelwissenschaften samt Unterkategorien auf.
Neue "Fields of Science and Technology"
Diesem Trend von ständig hinzukommenden neuen Gebieten musste auch die OECD Tribut zollen und unterzog ihre 2002 eingeführte Systematik von Wissenschaftszweigen, die "Fields of Science and Technology" (FOS), einer gründlichen Überarbeitung. Die FOS, die unter anderem der statistischen Datenerhebung und internationalen Vergleichbarkeit von Forschungseinrichtungen und -ergebnissen dienen, würden nicht mehr "gänzlich die Veränderungen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technologie in Bezug auf neu entstehende Technologiefelder wie IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien; Anm.), Bio- und Nanotechnologie" reflektieren. Die überarbeitete Version der FOS von 2007 sollte durch neue Kategorien flexibler für neue Forschungsgebiete sein, auch wenn sie nur einen Kompromiss zwischen verschiedenen Ansichten der beteiligten Akteure und Nutzerinteressen darstellen könne, hieß es in dem Bericht.
Aufbauend auf diese Systematik hat die Statistik Austria die "Österreichische Systematik der Wissenschaftszweige 2012" (ÖFOS) erstellt. Genau wie in den FOS gibt es dabei in den maßgeblichen ersten beiden Hierarchieebenen sechs Hauptkategorien (Naturwissenschaften; Technische Wissenschaften; Humanmedizin, Gesundheitswissenschaften; Agrarwissenschaften, Veterinärmedizin; Sozialwissenschaften; Geisteswissenschaften) und 42 Unterkategorien. Insgesamt haben sich diese Unterkategorien mehr als verdoppelt, allein bei den Technischen Wissenschaften sind zu den drei bestehenden acht neue Unterkategorien hinzugekommen.
Taucht man noch tiefer in das Kategorienschema hinein, so fächern sich ausgehend von den sechs Hauptkategorien in Österreich mehr als 1.200 Arbeitsgebiete auf, von Algebra über Graffiti-Forschung und Tissue Engineering bis Zoologie. Die quantitative Tendenz für diese Arbeitsgebiete ist steigend: "Bei der F&E-Erhebung 2011 wurden über 1.000 Vorschläge für neue Forschungskategorien gemacht", erklärt Gabriele Spörker von der Statistik Austria gegenüber APA-Science.
56 dieser Vorschläge, die von Hochschulen ebenso wie von Forschungseinrichtungen stammen, wurden neu aufgenommen und in den online frei zugänglichen Forschungsstättenkatalog der Statistik Austria überführt. Die nächste Aktualisierung ist übrigens für 2015 auf Basis der Daten der F&E-Erhebung 2013 geplant.
Konvergenz der Technologien
Vor allem das Aufkommen von Nano- und Biotechnologie brachte um die Jahrtausendwende eine Diskussion über das Verschmelzen von neuen Technologien und Wissenschaftszweigen in Gang. Der von den beiden US-amerikanischen Forschern Mihail Roco und William Bainbridge geprägte Begriff Converging Technologies (CT) meinte in seiner ursprünglichen Ausprägung die "synergistische Kombination von vier wesentlichen 'NBIC' (Nano-Bio-Info-Cogno)-Bereichen von Wissenschaft und Technologie".
Obwohl bis heute keine einheitliche Definition des Konzepts existiert, geht es im Kern um das Zusammenwachsen von Hochtechnologien rund um Nano-, Biotechnologie, Informationstechnologien und Kognitionswissenschaften inklusive der Neurobiologie. Schwang in den USA dabei mitunter auch der futuristische, militärisch angehauchte Gedanke des "Human Enhancement", also der technisch gestützten Verbesserung des menschlichen Körpers, mit, wollte man dieses enge Konzept in Europa ganz bewusst breiter verstanden wissen.
"High Level Expert Group"
Die EU-Kommission installierte eine "High Level Expert Group", die 2004 einen Bericht vorlegte und unter anderem eine Erweiterung der Converging Technologies-Idee um mehrere Disziplinen vorschlug: "Es kamen Sozial-, Politik-, Wirtschaftswissenschaften, Ethik und praktische Philosophie dazu", erinnert sich André Gazsó vom Institut für Technikfolgenabschätzung (ITA) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Gespräch mit APA-Science. "Das ist die eine Konvergenz, und die zweite Erweiterung ist, dass es nicht nur anwendungs-, sondern problemorientiert ist. Hier geht es auch um die Lösung von gesellschaftlichen Problemen und nicht nur um die Erreichung eines kurzfristigen technischen Zieles. Und das ist schon ein wesentlicher Unterschied."
Das ITA ist dem Konvergenz-Phänomen in weiterer Folge speziell in Österreich auf den Grund gegangen. Als potenzielle österreichische Themenfelder für Forschung in diesen Bereichen nannten die Experten in einer 2011 erschienenen Pilotstudie vor allem Beispiele aus den Bereichen "intelligente Materialien, autonome Robotersysteme, Medizin (vor allem Prothesen), Bionik/Biomimetik und Synthetische Biologie". Generell wurde die fächerübergreifende Kollaboration als "eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Zukunft der Forschung und Technikentwicklung" erachtet.
Mittlerweile hat das ITA gemeinsam mit dem Infrastrukturministerium (BMVIT) und dem Rat für Forschung und Technologieentwicklung (RFT) eine Debatte darüber angestoßen, wie mit den Converging Technologies in Zukunft verfahren werden soll, auch in Hinblick auf die Forschungsförderung. Dieser Diskussionsprozess ist - ausgehend von einem Symposium im Mai 2014 - noch im Laufen, aber zumindest hat der Begriff mittlerweile erstmals in einem österreichischen Förderprogramm Einzug gehalten. In der aktuellen Ausschreibung des "Bridge"-Programms der Forschungsförderungsgesellschaft (FFG), das traditionell an der Schnittstelle von Grundlagen- und angewandter Forschung angesiedelt ist, ist nun explizit "die Einreichung von Projekten zu sogenannten 'Converging Technologies' erwünscht". Dotiert ist die Ausschreibung mit sechs Mio. Euro.
Disziplinen aus historischer Perspektive
Offen bleibt bei solchen und ähnlichen Kategorisierungsansätzen und -debatten die Frage, was jeweils die Initialzündung für eine neue Disziplin war und ob es gewisse, sich wiederholende Schemata gibt. Historisch gesehen sind dabei zwar Muster erkennbar, meist handelte es sich aber um eine "zufällige, schwer erklärbare Abspaltungsbewegung", wie der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash gegenüber APA-Science erklärt. Bei den Naturwissenschaften sei seit dem 19. Jahrhundert immer wieder mit einer Nachfrage aus dem Arbeitsmarkt argumentiert worden. Wegen der damals stürmischen Entwicklung der Industrie habe es neuer Lehrstühle für Chemie bedurft, einen für organische und einen für anorganische Chemie.
Man könne aber genauso gut mit einer staatlichen Version des Marktarguments argumentieren. "Wegen der Entwicklung an der Schule braucht es Lehrer, die auf dieses Wissensgebiet spezialisiert sind. Das nenne ich jetzt bewusst eine staatliche Fassung des Marktargumentes. Es geht immer um die Nachfrage", so der Professor für neuere Geschichte an der Universität Wien. "Aber diese Argumente laufen immer neben der wissenschaftlichen Begründung und ergänzen diese. Das heißt, es hat keinen Sinn zu sagen, es wäre alles in den Wissenschaften naturgemäß so angelegt. Die Vermehrung des Wissens führt in der Tat zu diesen Spezialisierungen und Abspaltungen. Das ist richtig, aber dass das in Lehrstühlen ausartet, das ist nicht vorherzusehen."
Die Differenzierung der Wissenschaften und die der Gesellschaften gehen Hand in Hand, meint Ash: "Es ist ein gegenseitiges Wechselverhältnis. Dass das eine das andere verursacht, das wäre viel zu kurz gegriffen." Am Beispiel der Entstehung von Berufsfeldern wie Sozialarbeit, Hygiene oder Gerichtsmedizin lasse sich ein großes Gebiet umfassen, das man heute mit der Verwissenschaftlichung des Sozialen überschreibe. "Die Gerichtsmedizin ist in Wien schon sehr früh institutionalisiert worden, bereits 1804. Aber das ist eine Ausnahme. Wir reden eher von einer Entwicklung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich bis heute vollzieht. Diese zunehmende Verwissenschaftlichung von bis dahin nicht qualifiziert besetzten Tätigkeiten ist gemeint. Also dieser Kampf um die Höherqualifizierung bestimmter Tätigkeiten."
Militärische Nachfrage nach Psychologen
Nachfrage spielt aber auch in den Geisteswissenschaften oft eine entscheidende Rolle in der Institutionalisierung einer Disziplin. "Der Diplomabschluss für Psychologen, den man heute dabei ist im Rahmen des Bologna-Prozesses abzuschaffen, ist 1941, also mitten in der Nazizeit, eingeführt worden - in Deutschland wie im besetzten Österreich bzw. der Ostmark", erklärt Ash. Hintergrund dafür war der Bedarf der Wehrmacht an Psychologen, die bei der Offiziersauslese behilflich sein sollten.
Die bis dahin als Wissenschaft innerhalb der Philosophie geführte Psychologie sollte einen eigens ausgezeichneten Karriere- und Berufsweg erhalten: "Und so kam es zum Diplomabschluss der Psychologie, das ist der erste Diplomabschluss in einer Geisteswissenschaft überhaupt. Und das ist im deutschen Sprachraum direkt aus diesem militärischen Zusammenhang gekommen. Das ist ein ganz klares Beispiel, wie aus einer Nachfrage, die in der Praxis erwächst, ein Fach institutionalisiert wird."
Die Schule als Bremser
Heute gehe es weniger um die Abgrenzung und Etablierung einzelner Disziplinen. Dass sich diese überhaupt noch in ihrer ursprünglichen Form erhalten, sieht der Historiker zum Teil in der konservativen Organisationsstruktur der Schulen begründet. "Die herkömmlichen Disziplinen sind nur noch Verwaltungseinheiten. Die sind nur noch wegen der Schulen da", so Ash. "Die Schulfächer heißen noch immer so wie sie heißen. Also selbst in den Naturwissenschaften: Chemie, Biologie - Lebenswissenschaften heißt es jetzt modischerweise - , aber es ist immer noch Biologie an den Schulen. Und man braucht die Lehrer, die aber am liebsten mit den Unterlagen, die sie an der Uni erarbeitet haben, die nächsten 40 Jahre weitermachen würden. Das ist ein Riesenbremser."
Generell stelle sich die Frage, ob man noch an der Disziplinen-Struktur festhalten solle. Ash: "Das Problem mit der ganzen Thematik ist, dass heute die Bezeichnung Disziplin fragwürdig geworden ist. Die Wissenschaftsfelder bzw. die Wissensfelder, um das genauer zu sagen, sind transdisziplinär. Der ganze Nanobereich, das ist nicht mehr nur Technologie, das ist nicht nur in einer Disziplin zu finden. Klimaforschung ebenso wenig. Das sind die Felder, in denen jetzt die Musik spielt. Ob die Disziplinen dadurch obsolet geworden sind, ist eine spannende Frage."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science