Philosophin: "Ethik beginnt, wo die Sachkenntnis endet"
Die Frage, was ethisch ist und was nicht, lässt sich nicht für alle Wissenschaftsdisziplinen gleichermaßen beantworten - ein Dilemma für sich. Für Elisabeth Menschl von der Universität Linz beginnt Ethik jedenfalls dort, wo die Expertise in einem Wissensgebiet endet. Im Interview mit APA-Science erklärt die Philosophin, warum Transparenz ein grundsätzlicher Wert in der Forschung sein sollte - und warum das schwer einzulösen ist.
APA-Science: Was sind für Sie Kernfragen der Wissenschaftsethik? Ab wann kommt Ethik ins Spiel?
Elisabeth Menschl: Da halte ich mich an Jean-François Lyotard, der das in seinem Buch "Der Widerstreit" gut dargelegt hat. Ethik kommt immer dann ins Spiel, wenn wir etwas mit Sachkenntnis nicht mehr lösen können. Zum Beispiel bei medizinischen Befunden, wenn eine Entscheidung, was zu tun ist, in diesem Rahmen nicht mehr beantwortbar ist.
Das betrifft natürlich auch die Wissenschaft. Das heißt, dass sich die Wissenschaft nicht rein intrinsisch oder intern regulieren und optimieren kann, sondern zwangsläufig irgendwann auch zu dieser Frage kommt: Was sollen wir tun? Und das lässt sich dann weder durch Formeln noch Versuche beantworten. Das ist genau die Schwierigkeit.
Wissenschaft existiert nicht in einem Vakuum und geschützten Bereich, sie ist immer auch ein Teil von Gesellschaft, wie Politik und Wirtschaft. Natürlich verschränkt sich das alles ineinander. Ethik verorte ich bereits an der Interaktion zwischen Wissenschaften und allen anderen Bereichen der Gesellschaft. Das wäre ein Grundthema der Wissenschaftsethik.
Ein anderes Thema wäre, dass die Wissenschaft selbst ein soziales System ist, und sich da auch ethische Fragen stellen. Zum dritten ist es so, dass jede Wissenschaftsdisziplin auch eine Art Kodex für sich hat - einmal mehr und einmal weniger ausgeprägt. Das sind die Fragen, die immer dieselben bleiben, auch ungeachtet dessen, was wir an Einzelforschung betreiben - wobei die Forschung ein eigener Bereich im Rahmen der Wissenschaft ist.
APA-Science: Eine Schlüsselfrage der Ethik ist, wie sie mit dem technischen Imperativ umgeht: Soll quasi alles, was technisch möglich ist, auch gemacht werden?
Menschl: Die Antwort ist ein bisschen eine dialektische: Wir stehen in einem Spannungsfeld. Das schlimmste, was uns passieren könnte, wäre der Status quo. Dann würden wir in der Misere hocken bleiben. Ein Riesenproblem in der Wissenschaft ist: Kann ich alle Folgen meiner wissenschaftlichen Handlungen absehen? Nein. Wer sollte solche Entscheidungen treffen? Die praktizierenden Wissenschafterinnen und Wissenschafter wären dann überfordert, die kämen nicht mehr zu ihrer Arbeit. Wir können ja schon in sehr einfachen Zusammenhängen niemals alle Folgen abschätzen. Wenn ich einen Imperativ formulieren würde, dann wäre es der: Sei stets korrekturbereit.
APA-Science: Die Schwierigkeit besteht wohl auch darin, allgemeingültige Richtlinien zu formulieren?
Menschl: Genau. Die sollten möglichst formal und offen und mit einem "insbesondere" versehen sein. Das heißt, wenn wir gerade in der Ethik beginnen, etwas taxativ aufzuzählen, dann wäre das für mein Dafürhalten eine unzumutbare Beschränkung - auch der wissenschaftlichen Tätigkeit. Die größte Herausforderung in der wissenschaftlichen Praxis ist die Gefährdung eines wissenschaftlichen Ethos, den wir aber nicht in Form einer Handlungsanweisung verfügbar haben.
Wir sehen die Herausforderung in der Gegenwart insbesondere in der raschen Zunahme von Ethikkommissionen. Man versucht die Frage nach dem Ethos zu institutionalisieren. Man muss aber dazu sagen, nur mit dem amtlichen Statuieren von ethischen Grundsätzen ist das Problem nicht gelöst.
APA-Science: Wie viel Einfluss können oder sollen diese Kommissionen wirklich haben?
Menschl: Ich predige das immer wieder im Fachbereich Ethik: Man muss von Ethik eine Ahnung haben, denn wie solche ethischen Grundsätze anzulegen sind, wird nicht durch Verhaltenskodizes, Compliance-Bekenntnisse durch Best Practice Papers oder sonstiges gelöst. Auch nicht durch Leitbilder, weil die Grundsatzfrage nach Ethik meistes gar nicht gestellt wird. Und das ist eine sehr komplexe Frage. Ich brauche bei einer Wissenschaftsethik immer auch die Reflexion des jeweiligen Ethikbegriffs. Ich muss erst den grundsätzlichen Rahmen abstecken, in dem ich dann produktiv tätig sein kann.
APA-Science: Das sind sehr weitreichende Fragestellungen. Was zählen Sie noch dazu?
Menschl: Zum Beispiel: Sollen die Unis verlängerte Werkbänke der Industrie sein, oder sollen sie in der Grundlagenforschung weitermachen? Das sind Fragen, die man nicht so einfach mit ja oder nein beantworten kann. Weil sonst haben wir am Ende Ethikeinrichtungen, die uns zwar praktische Ratschläge geben, die aber bestenfalls das Niveau von banalen Vereinsregeln haben.
APA-Science: Wie beurteilen Sie den Einfluss von Ethikkommissionen in Österreich - oder sind sie gar zahnlose Gremien?
Menschl: Zahnlos würde ich nicht sagen, nein. Aber man kann nicht einfach Festlegungen und Beschlüsse machen und hoffen, die halten ewig. So ein Instrumentarium einzurichten heißt lebenslange Arbeit, immer wieder anpassen und nachschärfen. Weil erst die Praxis zeigt ja, wo muss ich was weitermachen und wo ist was nicht beantwortet.
Der ethische Diskurs ist etwa in den Life Sciences ganz groß. Wie weit soll man in der Stammzellenforschung gehen, wo liegen die Grenzen in der Präimplantationsdiagnostik, der Pränataldiagnostik, was heißt Tierschutz? Da muss ich mir Gedanken machen über die allgemeine Ethik. Ethik ist in der Philosophie immer die Theorie der Moral. Und Moral und Sittlichkeit ist das, was gerade gelebt, bewertet, gefördert wird. Ethik versucht, das eine Ebene höher vom theoretischen Standpunkt aus zu betrachten.
APA-Science: Wie und entlang welcher Wertvorstellungen hat sich die Ethik im Lauf der Zeit entwickelt?
Menschl: Man sieht schon eine Änderung im Laufe der Geschichte. Ethik war ursprünglich nur auf den Menschen zugeschnitten, das heißt einen moralisch-ethischen Wert besitzt nur die Spezies Mensch. Das nächste war, insbesondere mit Schopenhauer, dass jedes Lebewesen, das eine Leidensfähigkeit besitzt, einen moralischen Wert hat. Der nächste Schritt - einer der Protagonisten war Albert Schweitzer-, war der Biozentrismus: Alles was lebt, hat einen Wert. Seit einigen Jahrzehnten haben wir noch eine größere Blase, das ist der sogenannte Holismus. Demnach hat das ganze Universum einen moralischen Wert.
Es gibt dann wieder Detailprobleme. Vor 20 Jahren hätten manche Nationen ihren Atommüll am liebsten im Weltraum entsorgt. Da braucht man dann einen holistischen Ansatz. Das heißt, eine Kommission müsste für sich klären, wie weit sich ihre Ethikkompetenz erstrecken soll. Wenn wir ethische Grenzen definieren möchten, auch in der Forschung, dann müssen wir uns im Vorhinein fragen, was wollen wir und was können wir?
APA-Science: Was es aber auch nicht gerade einfacher macht, einen Kompromiss zu finden und sich in den Wissenschaften auf eine Art ethisches Basis-Wertsystem zu einigen?
Menschl: Das ist schwierig, aber ein grundsätzlicher Wert in der Forschung sollte Transparenz sein - und Nachvollziehbarkeit. In der zeitgenössischen Wissenschaftspraxis ist das halt sehr schwierig, weil wir ein System haben mit Patenten und Intellectual Property Rights usw., wo Transparenz nicht möglich ist. Ich habe selber schon gesperrte Abschlussarbeiten betreut. Das ist das andere Problem und deshalb meinte ich, da muss man von Grund auf sehr viel ändern an der Struktur und an der Systematik. Auf der gegenwärtigen Basis können wir keine Transparenz einfordern.
Was wir intern in den Wissenschaften haben, das sind Forderungen, die wir jederzeit umsetzen können. Das wäre der redliche Umgang mit Methoden und Quellen, Daten, dem geistigen Eigentum. Dazu hat das Internet zum Glück sehr viel beigetragen, weil ich viel mehr überblicken kann als früher. Auf diesem Fundament kann man schon aufbauen. Allerdings, wenn man sich die interne Wissenschaftspraxis anschaut, ist durch die Hintertür schon wieder voll die Pervertierung reingekommen. Zum Beispiel gibt es "Abschlussfabriken", also professionelle Agenturen, die für wissenschaftliche Arbeiten gegen Bezahlung von Themenauswahl bis Ghostwriting alles anbieten.
APA-Science: Ist das für Sie ein Dilemma, das man nie perfekt wird lösen können?
Menschl: Das wird nie perfekt zu lösen sein. Wir müssen mit diesen Fragen schon viel früher beginnen, und angewandte Ethik in alle Curricula einbauen. Ich habe hier (an der JKU; Anm.) die Möglichkeit, einen interdisziplinären Blended-Learning-Kurs für angewandte Ethik abzuhalten und habe im Durchschnitt 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Da ist unsere "überschaubare" Universität sicher wie in vielen anderen Bereichen durchaus ein Musterbeispiel. Aber es gibt natürlich auch Einrichtungen, die von Ethik nie etwas hören.
Öffentlich wirksam wird nur noch Fehlverhalten von einzelnen Disziplinen oder Personen, wenn es um Datenmanipulationen, Plagiate oder Titelhandel geht. Das sind dann die Schlagzeilen, die sich in der Öffentlichkeit niederschlagen.
APA-Science: Die Entdeckung der Kernspaltung und die Frage ihrer zivilen und/oder militärischen Nutzung im 20. Jahrhundert gilt als eines der ersten bekannten Beispiele für einen ethischen Konflikt in der Wissenschaft. Hat es so etwas schon früher gegeben?
Menschl: Die Kernspaltung ist ein Beispiel dafür, dass man Folgen nicht abschätzen kann. Sie war gedacht zur Energienutzung und im Verlauf der späten 1930er-Jahre wurde dann absehbar, dass man das auch für Waffentechnologie nutzen kann. Der Zugang ist aber generell in Europa und USA ein völlig verschiedener. Das US-Rechtssystem ist ein kasuistisches, das immer auf Fälle und Präzedenz aus ist. Und so gab es im Bereich der Wissenschaftsethik die ersten Fallstudien bereits Mitte des 19. Jahrhunderts an der Harvard University, in den Rechtswissenschaften. Man hat sich bereits 1870 Formate dahin gehend überlegt, was man heute die sokratische Methode nennt - quasi Frage-Antwort-Frage, dass man einen Diskurs in Gang setzt, der durch Kompetenz geführt wird. Die haben dann bereits 1920 an ihrer Medical School ihre Fallstudien eingeführt.
Davor war Wissenschaft immer von der jeweiligen Herrschaft abhängig, da hat es immer eine unmittelbare Verknüpfung gegeben. Aus Kathedralschulen wurden im Mittelalter Universitäten und da war natürlich eine Linie vorgegeben. Wenn man da an alte Paradigmen und Regeln geglaubt hat, und die Erkenntnisse von Galilei, Kopernikus oder Kepler nicht zu diesen axiomatischen Modellen gepasst haben, dann war es in der Regel ein Pech für die Realität, aber nicht fürs Modell.
APA-Science: Es scheint, als habe es vor 20, 30 Jahren nur eine Handvoll kritischer Fragen in der Wissenschaft gegeben, die man unter ethischen Kriterien diskutiert hat. Dazu gehörten vor allem Eingriffe in die menschliche Keimbahn und allgemein Genetik. Heute ist die thematische Komplexität gestiegen, ethische Fragen streuen in viel mehr Bereiche hinein. Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?
Menschl: Ja. Gerade bei den Bereichen wie Genetik oder autonomes Fahren, da prallt Wissenschaft ja unmittelbar auf Ethik. In der Genetik muss ich erst einmal publik machen, was ist Wissenschaft, was sind wesentliche Kriterien für Wissenschaft und was diese leisten soll. Da gibt es zwei Grundparameter, die Erklärung und die Vorhersage. Genetik und Evolutionsbiologie haben zwar eine hohe Erklärungsfunktion, aber null Vorhersage. Die Quantenphysik hat fast 100 Prozent Vorhersage, aber fast keine Erklärung.
Da würde eigentlich zum Grundinventar diese Strukturierung gehören, dass einem einmal klar wird, was sind die Parameter dieses Forschungsbereiches. Was können die? Können die uns sagen, was passiert, wenn wir irgendetwas aus dem Genpool entfernen? Nein. Wir wissen mit der Entschlüsselung des Genoms noch keineswegs, in welchen Beziehungen alles steht. Was ist mit betroffen, wenn ich da etwas mache? Wie weit darf ich das isolieren? Und so weiter. Das sind Basis- und Grundfragen, und da kommt dann die Ethik gleich dazu.
APA-Science: Worauf sollte im Zusammenhang mit Ethik noch stärkeres Augenmerk gelegt werden?
Menschl: Wir haben bereits Menschen, die Ethik in der Wissenschaft sehr ernst nehmen. Wir nennen sie Whistleblower. Das sind aber leider Gottes die Parias und Aussätzigen in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, statt dass man diesen Menschen dankbar wäre oder auf sie hören würde. Begonnen hat das schon beim Störfall in Harrisburg (1979 im Kernkraftwerk Three Mile Island in den USA; Anm.). Zwei Jahre vorher hat ein Atomtechniker gewarnt und gemeint es läuft etwas nicht richtig. Er wurde gekündigt und auf die schwarze Liste gesetzt. Er hat nie wieder einen Job bekommen. Es wäre auch ein Teil der Transparenz, Whistleblowern ein Forum zu geben.
Wir wissen, es gibt geltende Paradigmen in jeder Disziplin und jemand, der mit etwas völlig Neuem kommt oder etwas kritisiert, wird es immer schwer haben. Ich würde schon in der Ausbildung beginnen, Kritikfähigkeit zu stärken. Gerade technische Studien laufen sehr häufig in Form einer Handlungsanweisung ab. Es gilt, insgesamt die Kultur zu verändern, mit ein bisschen mehr Transparenz. Mir wäre sehr viel daran gelegen, dass sich auch die Werthaltung der Allgemeinheit zur Wissenschaft wieder verbessert.
Die Frage, die sich stellt - und die hat schon Hans Jonas (deutscher Philosoph; Anm.) vor 25 Jahren gestellt-, ist: Heißt technologischer Fortschritt auch gleichzeitig "Auf Wiedersehen, Ethik"? Ich glaube nicht. Ganz im Gegenteil.
Das Gespräch führte Mario Wasserfaller / APA-Science
ZUR PERSON: Elisabeth Menschl ist Senior Lecturer (mit eingeleitetem Habilitationsverfahren) am Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Johannes-Kepler-Universität (JKU) Linz. Sie forscht und lehrt u.a. zu den Themen angewandte Ethik, Geschichte der Philosophie und Wissenschaften, Wissenschaftsphilosophie, Logik, Gender Philosophy und praktiziert Philosophieren mit Kindern.