Mit dem ersten Lockdown im März 2020 hat für die Universitäten ein neues Zeitalter begonnen. „Richtig“, „übertrieben“, „das kann man so nicht sehen“, sind die üblichen Reaktionen auf diese These, aber wie zutreffend ist diese? Um es gleich vorweg zu nehmen: Diese Frage ist nicht eindeutig beantwortbar, weil die Universitäten mitten in einem Veränderungsprozess stecken, der mit dem Ende der Covid-19-Pandemie nicht vorbei sein wird, aber es sind Tendenzen ableitbar.
Schauen wir zurück auf das Wintersemester 2019/20, ein ganz normales Semester mit einem Präsenzbetrieb, an der einen oder anderen Stelle aufgelockert durch durchaus vielfältige digitale Angebote. Die Universitäten waren dabei, ihre Digitalisierungsstrategien in die Tat umzusetzen, es wurden verschiedene Formate ausprobiert, der entsprechende Auf- und Ausbau der Infrastruktur hatte begonnen. Von außen betrachtet, waren das wichtige inkrementelle Schritte, und dann war innerhalb von wenigen Tagen alles anders.
Man kann den ersten Lockdown durchaus als Disruption für die Digitalisierung in der Lehre bezeichnen, der nicht annähernd erfolgreich hätte sein können, wenn die Legende von der geschlossenen Universität der Wirklichkeit entspräche. Richtig ist, bezogen auf die Dauer der Pandemie waren für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum die Universitätsgebäude geschlossen, mehr nicht.
Ausbau der Infrastruktur
Seit der Ankündigung des Lockdowns im März 2020 wurde die technische Infrastruktur massiv ausgebaut, Lehr- und Lernplattformen wurden erweitert, Strategien für distance learning und home learning (weiter-)entwickelt, sowie Unterstützungsangebote für Studierende und Lehrende zur Verfügung gestellt. Dieser Prozess ist noch nicht beendet.
Standen am Anfang der schnelle Umstieg und die dazu erforderlichen Ressourcen im Mittelpunkt, nahm mit der Vorbereitung auf das Wintersemester 2020/21 der Anspruch zu, nachhaltig digitales Lehren in den Curricula zu verankern, und dieser Weg wird konsequent weiterverfolgt werden. Die Dynamik dieses Prozesses ist – unbenommen der Tatsache, dass die gesamte Situation allen viel abverlangt – eine große, und es ist wichtig, diesen Schwung mitzunehmen in unsere digitale Zukunft.
Trotz dieser positiven Aspekte: Was bedeutet Lernen auf Distanz nun im dritten „Corona-Semester“? Unbestritten ist, dass sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden „distanzmüde“ sind. Die Erstsemestrigen wissen nicht einmal, wo sie eigentlich studieren. Die Vortragenden reden bei Vorlesungen in ein schwarzes Loch. Damit lässt sich nur schwer Begeisterung entfachen. Das gilt auch für jene Studierenden, die 2020 mit dem Masterstudium begonnen haben: Bei mittlerweile bis zu drei Semestern digitalen Lehrens und Lernens braucht es schon einen zusätzlichen Motivationsschub.
Woraus diese Motivation schöpfen? Nach wie vor ist die intrinsische Motivation aller Universitätsangehörigen die Situation zu bewältigen hoch, das sprichwörtliche „Licht am Ende des Tunnels“ bilden jedoch die Entwicklungen der letzten Monate, die in absehbarer Zeit im „Grünen Pass“ gipfeln werden. Damit erweitern sich die Möglichkeiten, Universität wieder als solche zu erleben, deutlich.
Neben den bereits das gesamte Studienjahr stattfindenden Labors, künstlerischem Einzelunterricht und ausgewählten Lehrveranstaltungen, werden bereits jetzt kleinere Lehrveranstaltungen und Seminare wieder in Präsenz durchgeführt, ebenso wie Prüfungen, auch wenn mit zwei Metern Abstand die Raumkapazitäten nur sehr eingeschränkt genutzt werden können. Für das Wintersemester 2021/22 zeichnet sich ein Szenario ab, in dem wir wesentlich mehr Personen pro Raum zulassen können als im vergangenen Herbst – mit einer Raumauslastung von bis zu 50 Prozent, vielleicht auch mehr. Allerdings wird uns neben dem Sicherheitsabstand sicher auch die Maske durch das kommende Wintersemester begleiten.
Die Planungen der Universitäten haben – bereits vor der mit Mai sichtbaren Entspannung bei den Fallzahlen – eingesetzt: Einige Unis, darunter auch die TU Wien, gehen davon aus, dass Abstandhalten und Hygienemaßnahmen verbunden mit Kontrollen (Tests, Impfungen) auch im Wintersemester aktuell sein werden und digitale Lehre nach wie eine Rolle spielen wird. Hybridvarianten werden unter Einhaltung der entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen geplant. Andere Universitäten, darunter die Kunstunis, wollen die Lehre im Herbst überwiegend in Präsenz anbieten. So unwägbar die Situation im Herbst für das Lehren und Lernen an den Universitäten ist, eines steht fest: Distanz- und Hybridlehre sind kein Sparmodell.
Hybride Universität
Der Blick über das kommende Wintersemester hinaus zeigt uns eine hybride Universität, d.h. eine Universität mit physischen und virtuellen Räumen. Das bedeutet, die Universitäten stehen vor der nächsten Herausforderung: Der ganzheitlichen Gestaltung von physischen und digitalen Lern- und Forschungsumgebungen, um den unterschiedlichen Bedürfnissen aller Universitätsangehörigen gerecht zu werden. Der physische Campus wird als Ort der sozialen Interaktion und des Dialogs weiterhin von entscheidender Bedeutung sein. Gleichzeitig wird es Räume brauchen, die konzentriertes Lernen ermöglichen. Der virtuelle Campus wird das Tor der Universitäten nach außen, die Chance, den Zugang für alle interessierten niederschwellig zu ermöglichen und damit ebenso wie der physische Campus dazu beitragen, die Aufgaben der Universität zu erfüllen.
Kurzportrait
Sabine Seidler wurde im September 1996 als erste ordentliche Professorin für Nichtmetallische Werkstoffe an die Technische Universität Wien, Fakultät für Maschinenwesen und Betriebswissenschaften, berufen. Die Forscherin Sabine Seidler konzentriert sich auf Struktur-Eigenschaftsbeziehungen in Kunststoffen, Kunststoffdiagnostik und Bruchmechanik. Im Oktober 2007 wurde Sabine Seidler an der TU zur Vizerektorin für Forschung bestellt, wobei sie Forschungskooperationen und Internationales verantwortete. Am 4. März 2011 wurde sie zur ersten Rektorin der Technischen Universität Wien gewählt. Es folgte im Mai 2018 eine zweite Wiederwahl für eine dritte Periode bis 2023. Seit Jänner 2020 fungiert Prof. Seidler zudem als Präsidentin der Österreichischen Universitätenkonferenz.
In ihrer Freizeit genießt es Sabine Seidler beim Radfahren, beim Kochen oder im Konzert auszuspannen. Zeit mit ihrer Familie – sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter – zu verbringen, ist ihr sehr wichtig.