Gehörlos Sprache verarbeiten
Im Gehirn aktiviert Sprache ein für sie typisches Netzwerk, ganz gleich, ob gesprochen oder gebärdet wird. Aber wie genau wird die ÖGS im Gehirn verarbeitet? Welche Unterschiede gibt es da zu einer Lautsprache, wie Deutsch? Und wie funktioniert eigentlich die Grammatik der ÖGS? Im regen Austausch mit der Gehörlosengemeinschaft versucht die Salzburger Sprachwissenschafterin Julia Krebs unbeantwortete Fragen wie diese zu beantworten.
Lange Zeit sind Gebärdensprachen nicht als vollwertige Sprachen angesehen worden. Das habe sich vor allem in den 1980er-Jahren zunehmend geändert, als die ersten gehörlosen Patienten mit neurologischen Sprachstörungen, genauer gesagt Aphasien, wissenschaftlich untersucht worden sind, erklärt die ÖGS-Forscherin im Gespräch mit APA-Science. „Man wollte zeigen, dass Gebärdensprachen richtige Sprachen sind“, so die Expertin. Dabei sei erkannt worden, dass bei einer Schädigung von sprachrelevanten Hirnarealen die Gebärdensprache des Patienten betroffen ist. Später habe man mithilfe bildgebender Verfahren, wie beispielsweise funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), auch in neurowissenschaftlichen Untersuchungen gesunder Gebärdender gesehen, dass an der Gebärdensprachverarbeitung sehr ähnliche Hirnareale beteiligt sind wie an der Lautsprachverarbeitung, erzählt Krebs.
„Heute ist es ganz klar, dass durch Sprache ein bestimmtes Sprachnetzwerk aktiviert wird, egal ob es eine Gebärden- oder Lautsprache ist“, sagt Krebs. Trotz dieser Erkenntnis seien in dem jungen Forschungsfeld noch zahlreiche Fragen offen. Die Expertin listet eine Auswahl an Beispielen auf: Welche Verarbeitungsmechanismen kann man für alle Sprachen der Welt beobachten? Wie werden Gebärdensprachen im Kindesalter und später erworben? Gibt es Unterschiede zwischen dem Gebärden- und dem Lautspracherwerb? Gibt es Unterschiede zwischen mehrsprachigen Personen, die beispielsweise eine Gebärden- und eine Lautsprache beherrschen, und mehrsprachigen Personen, die etwa zwei Lautsprachen sprechen?
Aphasie
Die American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) definiert Aphasie als Sprachstörung, die infolge einer Schädigung der sprachrelevanten Hirnareale auftritt. In den meisten Fällen wird eine Aphasie durch einen Schlaganfall verursacht. Konkrete Symptome unterscheiden sich individuell und können die Sprachproduktion oder -perzeption gleichermaßen betreffen. Zur Sprachproduktion zählen das Sprechen, Gebärden und Schreiben, während Sprachperzeption das auditive oder gebärdete Sprachverstehen und das Lesen meint.
Die Forschung mit Aphasie-Patienten hat einen wichtigen Beitrag zur Anerkennung von Gebärdensprachen als eigenständige Sprachen geleistet.
Grammatikalische Unterschiede in der Handbewegung
Krebs selbst interessiert sich derzeit besonders für die Bewegungen der Hände und deren grammatikalische Bedeutungen. Mithilfe von 3D Motion Capture kann die Dynamik von Bewegungen sehr präzise gemessen werden.
In einem Forschungsteam, bestehend aus Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus Salzburg und den USA, hat sie so einen Unterschied zwischen Verbklassen der ÖGS-Grammatik festgestellt, der durch die zeitliche Komponente der Bewegung markiert wird. Telische Verben, die einen Endpunkt implizieren (z.B. „ankommen“), weisen eine kürzere Dauer, mehr Beschleunigung, sowie ein stärkeres Abbremsen am Ende auf als atelische Verben, die keinen Endpunkt einbeziehen (z.B. „radfahren“). „Einen Unterschied in der Dauer kann man vielleicht noch am Video erkennen, aber die Beschleunigungsaspekte und deren zeitlicher Verlauf sind für eine subjektive Videoanalyse zu subtil“, erklärt Krebs. Die ersten Ergebnisse aus dieser Studie sind kürzlich auf einer wissenschaftlichen Konferenz präsentiert worden (siehe Event visibility in sign language motion: Evidence from Austrian Sign Language).
Datensammlung durch 3D Motion Capture
Motion Capture kann subtile und präzise Bewegungen festhalten und in Daten und Bilder übersetzen In der Film- und Gamingbranche wird die Technologie schon seit vielen Jahren eingesetzt (siehe Foto). An der Universität Salzburg werden am Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaft anhand dieses Systems üblicherweise sportliche Analysen, wie etwa des Gehens, Laufens oder Schifahrens gemacht, berichtet Krebs.
In diesem Experiment wurde in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Biomechanik erstmals ÖGS untersucht. Für diese sprachwissenschaftliche Studie wurde unter anderem ein reflektierender Marker auf dem Handgelenk der Gebärdenden angebracht und so die Dynamik der Handbewegungen während des Gebärdens gemessen.
Kognitive Verarbeitungsmechanismen sprachlicher Strukturen
Kennt man grammatikalische Strukturen der ÖGS, könne man in einem weiteren Schritt deren kognitiv-neuronale Verarbeitung erforschen, sagt die Wissenschafterin. Beispielsweise hat sie gemeinsam mit Ihren Forschungskolleginnen und -kollegen anhand von Elektroenzephalografie-Messungen (EEG) herausgefunden, dass es in der ÖGS, genauso wie im Deutschen, eine Subjektpräferenz gibt. Damit ist eine Sprachverarbeitungsstrategie gemeint. Beginnt ein Satz mit einem Nomen, dessen grammatikalischer Fall nicht eindeutig markiert ist, gehen sowohl ÖGS- wie auch Deutschsprachige tendenziell davon aus, dass es sich um das Subjekt des Satzes handelt. Stellt sich aber später im Satz heraus, dass es sich dabei um ein Objekt gehandelt hat, muss der Satz im Gehirn neu analysiert werden. „In dem Fall können wir einen erhöhten neuronalen Verarbeitungsaufwand beobachten“, erläutert die Expertin.
Ein konkretes Beispiel aus dem Deutschen ist in einer ihrer wissenschaftlichen Fachpublikationen, Subjektpräferenz in der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS), zu finden. „Ich glaube, dass die Prinzessin Frösche küsst“ ist für deutsche Muttersprachler demzufolge tendenziell mit einem geringeren neuronalen Verarbeitungsaufwand verbunden als „Ich glaube, dass die Prinzessin Frösche küssen“. Im zweiten Satz steht die geküsste Prinzessin (das Objekt des Satzes) vor den küssenden Fröschen (dem Subjekt des Satzes). Denselben Sprachverarbeitungsmechanismus konnten Krebs und ihre Kolleginnen und Kollegen für die Verarbeitung analoger Strukturen in der ÖGS beobachten.
Neben der Subjektpräferenz fallen auch weitere Ähnlichkeiten zwischen perzeptiven Verarbeitungsmechanismen von Laut- und Gebärdensprachen auf. Es sei etwa für Sprechende sowie für Gebärdende einfacher echte Wörter oder Gebärden zu verarbeiten als sogenannte Pseudowörter oder -gebärden, die in der Zielsprache keine Bedeutung haben (z.B. „Dinfe“ im Deutschen). Dies wird Lexikalitätseffekt genannt, sagt Krebs.
Auch in der Sprachproduktion kommen vergleichbare Muster vor. „Es gibt Versprecher in Lautsprachen. Es gibt Vergebärdler in Gebärdensprachen“, nennt die Forscherin als Beispiel. Während Sprechende „Tip-of-the-tongue“-Phänomene erleben („Es liegt mir auf der Zunge“), werden bei Gebärdenden „Tip-of-the-fingers“-Phänomene beschrieben. Das heißt, man weiß, was man gebärden will, die richtige Gebärde ist aber in dem Moment nicht abrufbar, erläutert die Sprachwissenschafterin.
Wo werden gebärdete und gesprochene Sprachen verarbeitet?
In der Lokalisation der neuronalen Sprachverarbeitung gibt es ebenso Überschneidungen zwischen Laut- und Gebärdensprachen, jedoch auch Unterschiede. „Es gibt mehr Aktivierung in auditiven Verarbeitungsarealen für Lautsprachen und mehr Aktivierung in visuellen Verarbeitungsarealen für Gebärdensprachen“, so Krebs. Beide Sprachmodalitäten werden aber großteils im sprachlichen Netzwerk der dominanten Hirnhälfte, die meist links sei, verarbeitet. Es gebe zudem sowohl für Laut- sowie Gebärdensprachen Aktivierungen in der nicht-dominanten Hirnhälfte. Diese sind allerdings aufgrund der räumlichen Verarbeitungsleistung während der Verarbeitung einer Gebärdensprache deutlich höher, erklärt die Fachfrau.
Gebärden oder sprechen im Mutterspracherwerb
Bereits im jungen Alter zeigen sich beim Erwerb von Laut- und Gebärdensprachen analoge Verarbeitungsprozesse. Im Deutschen neigen Kinder etwa anfangs dazu Wörter zu vereinfachen. Nach demselben Prinzip werden auch Gebärden der ÖGS erworben, berichtet Krebs. Einfachere Strukturen werden nämlich vor komplexeren gelernt. „Wir kennen aus der Lautsprache Beispiele wie ‚Ich trinkte‘ oder ‚Ich liegte‘, wenn die Mitvergangenheit noch nicht vollständig erworben worden ist. Ähnliche Übergeneralisierungen grammatikalischer Regeln sind im ÖGS-Erwerb beobachtbar“, so die Forscherin.
Anhand einer Fremdsprache lesen lernen
Für taube Kinder ist die Lautsprache nicht barrierefrei zugänglich, dennoch lernen sie in österreichischen Schulen deutsche Texte zu lesen. „Der Leseerwerb ist eine doppelte Hürde für gehörlose Kinder. Sie müssen nicht nur wie hörende Kinder die Fertigkeit des Lesens erlernen, sondern gleichzeitig auch eine Fremdsprache erwerben“, macht Krebs deutlich. Sie fügt hinzu, dass dies schwierig für betroffene Kinder sei, weil die Sprachstruktur des Deutschen eine ganz andere als die der ÖGS sei. „Es gibt Studien, die zeigen, dass gehörlose Kinder, die mit einer Gebärdensprache als Erstsprache aufwachsen, eine bessere Lesefähigkeit entwickeln als gehörlose Kinder, die ohne einer Gebärdensprachkompetenz aufwachsen. Lautsprachen sind für diese Kinder nicht barrierefrei zugänglich“, so die Linguistin, „und eine gut ausgebildete Erstsprache ist die perfekte Basis, um weitere Sprachen zu erlernen.“ Krebs weist überdies darauf hin, dass dadurch die schulische Leistung der Kinder beeinflusst werde.
So argumentiert die Expertin, dass gehörlosen Kindern aus linguistischer und pädagogischer Perspektive eine Gebärdensprache angeboten werden solle, auch wenn dem betroffenen Kind eine technische Hörhilfe, ein Cochlea-Implantat (CI), operativ eingesetzt wird. „Es ist bei CI-Kindern leider oftmals der Fall, dass der Lautspracherwerb nicht ideal funktioniert. Das kann einem niemand im Vorhinein sagen“, sagt Krebs. „Deswegen ist eine Gebärdensprache wie ein Sicherheitsgurt im Auto“, zitiert sie sinngemäß Kollegen. Dass das Erlernen einer Gebärdensprache den Lautspracherwerb einschränken soll, lässt die Sprachwissenschafterin so absolut nicht stehen: „Genau das Gegenteil ist der Fall. Man kann zeigen, dass bei Kindern mit einer gut ausgebildeten Erstsprache in Form einer Gebärdensprache nicht nur der Leseerwerb, sondern auch der Lautspracherwerb positiv beeinflusst wird.“
Eng verknüpft: ÖGS-Forschung und die Gehörlosengemeinschaft
Auf all diese Forschungsfragen sucht Krebs nicht auf eigene Faust Antworten. „Forschung und von der Gehörlosengemeinschaft über die Gebärdensprache zu lernen ist schön und interessant und spannend. Die Forschungsarbeit ist aber vor allem für die Community relevant. Das ist eigentlich das Wichtigste daran“, verdeutlicht die Sprachwissenschafterin. Es sei ihr wichtig, ihre Forschung zusammen mit der Gehörlosengemeinschaft und vor allem in deren Interesse zu betreiben, „weil man eben nur gemeinsam neue Erkenntnisse schafft.“
Neues Wissen zur ÖGS-Grammatik, zur neuronalen Verarbeitung und zum Spracherwerb werde gebraucht, um ÖGS als Unterrichtssprache und -fach umsetzen zu können. Es ist wichtig für die Erstellung von Lehrmaterialien sowie die Ausbildung von Pädagog/innen und Dolmetscher/innen, so Krebs.
Die Anerkennung der ÖGS in der Gesellschaft ist gleichermaßen wichtig, sagt Krebs. „Gebärdensprachen weisen alle Aspekte auf, die auch Lautsprachen aufweisen. Seien es nationale Varianten, Dialekte, Sprachwandelprozesse oder wie sie im Gehirn verarbeitet werden. Es gibt immer noch viel zu wenig Wissen darüber“, so die Forscherin. Sie führt ins Treffen, dass es für die Hirnleistung Hörender ebenso förderlich sei, eine Gebärdensprache zu erlernen: „Die visuell-räumliche Verarbeitung und die Gesichtserkennung werden beispielsweise gestärkt. Auch wenn wir erst später eine Gebärdensprache erlernen.“ Sie selbst sieht bei Gehörlosen nicht die Sinnesbehinderung im Vordergrund: „Ich habe taube Menschen nie als behindert angesehen. Taube Menschen werden durch die hörende, nicht-gebärdensprachige Gesellschaft behindert. Die Einbindung der Gebärdensprache als Unterrichtssprache und Unterrichtsfach in den Gehörlosenbildungsbereich, sowie die Einführung von ÖGS als Unterrichtsfach auch für hörende Schülerinnen und Schüler sind essentielle Maßnahmen um Barrieren im Bildungsbereich und in der Gesellschaft abzubauen.“
Zur Person
Julia Krebs wurde 1987 in Vöcklabruck (Oberösterreich) geboren. Durch Zufall ist sie auf die dreijährige Dolmetschausbildung GESDO (Gebärdensprachdolmetschen) in Linz gestoßen, die sofort ihr Interesse geweckt hat. Beim Bewerbungsgespräch ist sie das erste Mal mit Gehörlosen in Kontakt gekommen. Nach ihrer Ausbildung zur ÖGS-Deutsch-Dolmetscherin hat sie Sprachwissenschaft an der Paris-Lodron-Universität Salzburg studiert. Sie hat das Doktorat abgeschlossen und arbeitet jetzt als Postdoc in der Forschungsgruppe Neurobiology of Language am Fachbereich Linguistik der Universität Salzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die neuronale Verarbeitung von Gebärdensprachen und die Grammatik der ÖGS. Beide Themen hängen für Julia Krebs stark zusammen, weil man die neuronale Verarbeitung einer sprachlichen Struktur nur erforschen könne, wenn man auch wisse, wie diese Struktur funktioniert.