Sprachgift Propaganda – Zur Massenbeeinflussung im Nationalsozialismus
„Wer wird uns besetzen? Russen glaube ich nicht“, vermerkt Hanns Hermann Gießauf noch am 8. Mai 1945 in seinem Tagebuch. Am nächsten Tag fügt der Grazer hinzu: „Und heute früh zwei Uhr kamen die Russen. In endlosen Kolonnen von Wagen, Autos und gummibereiften Kanonen.“ Der Geschäftsmann lag mit seiner Einschätzung daneben.

Eine Einschätzung, die sich vor allem auf die verfügbaren Informationen über den Kriegsverlauf stützte. Zahlreiche Zeitungsartikel über die militärische Lage, gespickt mit Durchhalteparolen, Versprechungen einer „Wunderwaffe“ und Warnungen vor „wilden Horden aus dem Osten“ klebte Gießauf Tag für Tag ein, um sich einen Überblick zu verschaffen. Nur: Die Berichte waren ein integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Propaganda. Lügen und Halbwahrheiten, heute würde man Desinformation sagen, kamen dabei als effektives Werkzeug zur Massenbeeinflussung zum Einsatz. Die flächendeckend verbreiteten Informationen stimmten einfach nicht oder nur teilweise, waren in ihrer Wirkung aber nicht weniger mächtig.
Propaganda hat eine lange Tradition mit einschneidenden Veränderungen ihrer Bedeutung. Der Begriff selbst geht auf Papst Gregor XV. zurück, der 1622 im Zuge der Gegenreformation die Missionstätigkeit der katholischen Kirche professionalisieren wollte. Im Zusammenhang mit der Glaubensverbreitung bedeutete das Wort lediglich „ausstreuen“ oder „ausbreiten“. Während des 19. Jahrhunderts kam er insbesondere in der Arbeiterbewegung zum Einsatz und war dabei vorwiegend positiv konnotiert. Mit den beiden Weltkriegen erfuhr Propaganda parallel zur Militarisierung jedoch eine Generalüberholung: In riesigen Kriegskampagnen diente Propaganda nun an der Heimatfront und auf den Schlachtfeldern als Kommunikationstechnik, um die Bevölkerung gezielt zu beeinflussen mit zwei zentralen Zielen: zur Bestätigung des eigenen Selbstbildes und zur Diffamierung des Feindes.
Aufstieg ohne Propagandamaschinerie nicht vorstellbar
Der Aufstieg des Nationalsozialismus ist ohne eine eigens entwickelte und in ihrer Reichweite noch nie dagewesene Propagandamaschinerie nicht vorstellbar. Adolf Hitler setzte von Beginn an auf die spektakuläre Waffe der Massenkommunikation, die als zentrales Vehikel der NS-Ideologie zum Einsatz kam. „Sie hat sich auf wenig zu beschränken und dies ewig zu wiederholen. Die Beharrlichkeit ist hier wie bei so vielem auf der Welt die erste und wichtigste Voraussetzung“, definierte Hitler in „Mein Kampf“ die nötige Quantität. Beim „Anschluss“ Österreichs im März 1938 ließen Flugzeuge einen Teppich an Hakenkreuzen und 300 Millionen Flugzetteln auf die Bevölkerung niederregnen. Es war die erste Luftoperation dieser Art. Die „Heimkehr meiner Heimat in das großdeutsche Reich“ wurde triumphal inszeniert mit dem bekannten Ergebnis. Durch eine tausend- wenn nicht millionenfache Wiederholung einfacher und simpler Mitteilungen kam die Botschaft bei der Masse an. Und manipulierte sie entsprechend.
Inhaltlich kann Hitlers Auffassung von Propaganda durch eine radikale Dualität charakterisiert werden. In seiner Sphäre standen sich Gut oder Böse, Liebe oder Hass, Hell oder Dunkel, oder, weniger abstrakt, die „Volksgemeinschaft“ oder die „Untermenschen“, der „arische Adel der Zukunft“ oder das „Weltjudentum“ diametral gegenüber. „Heilig soll uns sein jede Mutter guten Blutes“, lautete der pseudoreligiöse Leitspruch des 1936 in Berlin im Auftrag von Reichsführer-SS Heinrich Himmler gegründeten Vereins Lebensborn. Durch Geburtskliniken sollte der Kinderreichtum der SS gefördert werden. Wer den Anforderungen nicht entsprach, wurde im schlimmsten Fall der Euthanasie zugeführt – fördernde versus „ausmerzende“, pro- versus antinatalistische Maßnahmen. Die Propaganda bog alles zurecht, der Rest wurde verheimlicht.
Verschärfung der Botschaften erhöhte Gewaltbereitschaft
Am anderen Ende der Skala eines instrumentalisierten „Wir-Gefühls“ wurden drastische Feindbilder zurechtgezimmert, die durch einschlägige Hassparolen zu einer Entmenschlichung beitrugen. Eine Verschärfung der Botschaften in Text und Bild trug dazu bei, dass Aggressivität sowie Gewaltbereitschaft stiegen. Parallel dazu sank die Hemmschwelle, zu demütigen, quälen und schließlich zu vernichten. Was mit Worten, mit Parolen begann, gipfelte im Holocaust. Massenkult und Rituale, die alle Sinne ansprachen und Emotionen weckten, stillten das Bedürfnis nach einer klar umrissenen Identität einer sozialen Gemeinschaft, die für politische wie militärische Zwecke instrumentalisiert wurde. Ideologie und Propaganda durchdrangen sämtliche Bereiche des Lebens, „von der Wiege bis zur Bahre“.
Die Macht der Sprache und der Bilder ist nicht zu unterschätzen, gerade auch heute mit der unglaublichen Reichweite sozialer Medien. Je simpler und plakativer ihre Botschaften aussehen, desto stärker wirken sie. Hier kommen wir zur großen Gefahr „ausgestreuter“ und „ausgebreiteter“ Informationen, deren Inhalte zunehmend keinem „Faktencheck“ mehr unterliegen beziehungsweise die ganz gezielt „Fake News“ verbreiten. Desinformationen gefährden die Demokratie, populistische vereinfachende Versprechungen und die Etablierung von Feindbildern ebenso. Wie die Propaganda aus der NS-Zeit zeigt, sickert ausgestreutes Sprachgift langsam, aber sicher in die Gesellschaft ein, durch penetrante Wiederholung, massiven Einsatz von Superlativen, Dämonisierung sowie prinzipielle sprachliche Verknüpfung des Gegners mit negativen Adjektiven. Wird nicht durch eine differenzierte, kritische Berichterstattung gegengesteuert und sichtbar gemacht, können die Folgen fatal sein.

Kurzportrait
Univ.-Prof. Dr. Barbara Stelzl-Marx, geboren 1971 in Graz, ist Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz – Wien – Raabs, Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz und Lektorin an der Diplomatischen Akademie Wien. Die Wissenschafterin des Jahres 2019 ist zudem korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ihre preisgekrönte Habilitation erschien 2012 unter dem Titel „Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Folgen des Zweiten Weltkrieges, Kinder des Krieges, Zwangsmigration, der Kalte Krieg und Erinnerungskultur.