Was es bedeutet mit einer seltenen Krankheit in Österreich zu leben
Im Alter von 18 Jahren wurde bei mir 2011 die seltene Krankheit Friedreich Ataxie diagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine neurologische, progressive Gleichgewichtsstörung, die weltweit rund 15.000 Menschen betrifft. Die meisten Patienten sind nach einigen Jahren auf die Hilfe eines Rollstuhls angewiesen.
Obwohl intensiv geforscht wird, gibt es aktuell keine Behandlung oder Heilung. Ein Medikament, das den Verlauf eindämmen soll, ist gerade im Zulassungsverfahren. Als junger Mensch mit Behinderung konnte ich umfangreiche Erfahrungen sammeln, wie Behörden, medizinische Zentren und allgemein unsere Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung umgehen. Aus diesem Grund möchte ich einige Anregungen sowohl an Gesellschaft und Politik als auch an die Wissenschaft richten.
Für Menschen mit Behinderung ist es auf jeden Fall ein Vorteil, in Österreich zu leben, wo sie Zugang zu Sozialleistungen, Reha- und Therapiemöglichkeiten haben und sich im Rahmen einer freien, demokratischen Gesellschaft Gehör für ihre Anliegen verschaffen und für ihre Interessen einsetzen können. Menschen mit Behinderung werden vom österreichischen Sozialsystem darin unterstützt, trotz ihrer Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Dafür bin ich als Betroffener dankbar.
Angebote wie erhöhte Familienbeihilfe, Behindertenausweis, Parkausweis, Euro-Key (für barrierefreies WC), sowie Förderungen für barrierefreien Wohnungsumbau erleichtern das Leben. Strafzahlungen für große Firmen, die keine Menschen mit Behinderung einstellen, sind ein weiterer guter Ansatz. Auch die 6. Urlaubswoche und steuerliche Vorteile (auch für Arbeitgeber) für den Status als begünstigter Behinderter helfen.
Jedoch gibt es in Österreich genug Handlungsbedarf. Von der Gesellschaft sollte es im Umgang mit Menschen mit seltenen Krankheiten bzw. Behinderung mehr Verständnis und Respekt geben. Beispielsweise gibt es oft eine voreilige Bewertung aufgrund äußerer Merkmale. Mein unsicherer Gang wird oft als Zeichen des Betrunkenseins gedeutet, was sogar Beschimpfungen zur Folge hat. Kein Mitleid, sondern Verständnis und keine besondere Behandlung sind nötig. Wenn Betroffene nicht explizit nach Hilfe fragen, sollten sie nicht einfach berührt oder mit dem Rollstuhl geschoben werden, da es sehr schnell als Eingriff in die Privatsphäre oder als Einschränkung der Selbstbestimmung verstanden werden könnte.
Handlungsbedarf vonseiten der Politik
Nicht weniger Handlungsbedarf gibt es vonseiten der Politik. Ein großes Thema ist die Umsetzung der UN-Menschenrechtskonvention für Menschen mit Behinderung, die Österreich ratifiziert hat. Dass diese noch nicht vollständig umgesetzt wurde, spricht nicht für ein wohlhabendes Land. Wichtige Themen sind unter anderem Barrierefreiheit (baulich, digital, in den Köpfen) und Inklusion.
Vor allem Herausforderungen in den Bereichen Pflegegeld und Reha-Bewilligung sind hervorzuheben. Menschen mit Pflegebedarf haben in Österreich ab einem bestimmten Pflegeaufwand ein Recht auf Pflegegeld. Dafür müssen aber immer größere Hürden überbrückt werden. Der erste Antrag wird oft abgelehnt oder mit Stufe 1 bewertet. Obwohl ein Facharzt ein Expertengutachten verfasst, entscheidet am Ende ein Chefarzt in der Leitungsetage des Versicherungsträgers – nicht selten am Gutachten vorbei. Auch wird der zeitliche Pflegeaufwand für die Pflegestufen kontinuierlich erhöht. Gab es bis 2010 ab 50 Stunden Pflegeaufwand pro Monat die Stufe 1 (75 Stunden für Stufe 2), waren es 2015 schon 65 Stunden (95 bei Stufe 2). Konkret bedeutet das, dass jemand, der pro Tag 3 Stunden Pflegebedarf hat, heute nur die Stufe 1 mit 175 Euro erhält, früher wäre das Stufe 2 gewesen, die heute mit rund 320 Euro abgegolten wird. Jemand mit einem täglichen Pflegebedarf von 2 Stunden bekommt heute nichts. Pflegebedarf bedeutet aber immer, dass der Betroffene ohne fremde Hilfe seinen Alltag nicht mehr meistern kann.
Ein anderes Problem ist die Bewilligung der Reha und auch die Zuteilung zum gewünschten Reha-Zentrum. Lange Wartezeiten bei der Beantragung, extra Schreiben an die Krankenkasse sowie unzählige Telefonate kosten Kraft, die eigentlich zum Leben gebraucht wird. Ebenso ist die Bewilligung von Hilfsgeräten wie Rollstühlen eine langwierige Angelegenheit.
Mehr Mittel für die Forschung
Von der Wissenschaft kann man sich als Patient einer (noch) unheilbaren seltenen Krankheit nur eines wünschen – eine Behandlung und Heilung. Bei der Friedreich Ataxie wird viel geforscht und es soll in naher Zukunft ein Medikament geben, das den Verlauf verlangsamt beziehungsweise stoppt. Für ähnliche Krankheiten gibt es bereits Heilung durch Gentherapie. Das wäre auch für meine Erkrankung möglich. Jedoch hängen all diese Medikamente von der Finanzierung durch Pharmafirmen ab, die nicht nur die Gesundheit der Patienten, sondern auch ihren Profit als Priorität haben. Hier müssten auf EU-Ebene Mechanismen etabliert werden, die bei der Erforschung seltener Krankheiten mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.
Abschließend ist es mir wichtig, die Arbeit des Vereins Pro Rare Austria zu betonen. Bei diesem Verein für seltene Krankheiten bin ich seit 2016 Mitglied und habe so eine Gemeinschaft in Österreich gefunden. Der Verein hat mich motiviert, mit Kollegen eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Die Selbsthilfegruppen Unterstützungsstelle Wien begleitet den Prozess der Gründung, informiert und beantwortet alle Fragen geduldig. Seit Jänner 2023 gibt es die Selbsthilfegruppe „Friedreich Ataxie Austria“ (Kontakt: friedreich.ataxie@gmx.at). Sie bietet eine Anlaufstelle für betroffene Patienten und Familien. Bei persönlichen Treffen oder Online-Meetings gibt es Raum für Austausch über Alltag, Therapien und Ärzte. Gerade bei seltenen Erkrankungen ist dieses Angebot wichtig, da Betroffene sich oft allein und hilflos fühlen.
Im Leben mit einer seltenen Krankheit habe ich gelernt, wie wichtig Gemeinschaft und Austausch für den Umgang und die Akzeptanz meiner Erkrankung sind. Diese Gemeinschaft finde ich auf Reha, sowie bei Treffen in Vereinen oder Selbsthilfegruppen. Mir ist sehr wichtig, dass diese Vernetzung weiterhin möglich ist und gefördert wird.
Kurzportrait
Jakob Mitterhauser ist 30 Jahre alt, kommt aus dem Weinviertel und schloss 2022 das Masterstudium Stadtklimatologie an der Universität für Bodenkultur ab. Er arbeitet in diesem Bereich Teilzeit bei einer kleinen Firma in Wien. 2011 wurde er mit der seltenen Erbkrankheit Friedreich Ataxie diagnostiziert. Da ein gesunder Lebensstil und Bewegung hilft, ist er im Para-Ruder-Team (https://wrc-pirat.at/para-rowing), macht Physiotherapie sowie Reha und versucht, möglichst stressfrei zu leben.
Nach anfänglichem Verdrängen ist er mittlerweile national und international als Botschafter der Friedreich Ataxie Gemeinschaft tätig. Unter anderem zeigt die mit dem österreichischen Wissenschaftspreis 2021 ausgezeichnete Multimedia-Dokumentation „Einfach nur Jakob“ von Sandra Fleck sein Leben mit der seltenen Krankheit (https://pageflow.jour.at/einfach-nur-jakob). Er ist Mitbegründer der Selbsthilfegruppe „Friedreich Ataxie Austria“.