apa.at
Kooperation / EU-MAGAZIN HORIZON / 14.08.2023, 16:45

Autismus: Fokus auf Frühbehandlung könnte zur Heilung führen

Neue Erkenntnisse über die Gene, die die neurologische Störung Autismus verursachen, könnten neue Möglichkeiten zur Prävention und möglicherweise sogar zur Umkehrung der Symptome eröffnen.

APA/AFP
Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASD) ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv erforscht wird. Es wird geschätzt, dass etwa 1 von 100 Kindern von ASD betroffen ist, und zwar hauptsächlich Burschen.

Studien legen nahe, dass ASD eng mit der Genetik verbunden ist. Die grundlegende Herausforderung besteht darin, die Beziehungen zwischen den vielen beteiligten Genen und den Symptomen zu entwirren.

Gene und die Symptome

Eine Fokussierung auf diese Zusammenhänge hat das Potenzial, das Verständnis der Störung und ihrer Behandlung zu verbessern.

Kinder, die mit einer seltenen genetischen Mutation geboren werden – mit einem Gen namens BCKDK – entwickeln beispielsweise mit größerer Wahrscheinlichkeit Beeinträchtigungen, die unbehandelt wahrscheinlich zu lebenslangem Autismus führen können. Zu den Symptomen gehören geistige Behinderung, Epilepsie und Mikrozephalie, ein Zustand, bei dem der Kopf des Säuglings kleiner ist als erwartet.

Das betreffende fehlerhafte Gen stört die Art und Weise, wie das Gehirn essentielle Nährstoffe, die so genannten „verzweigtkettigen Aminosäuren“, verarbeiten kann und schafft die Bedingungen für eine verzögerte neurologische Entwicklung. „Das hat uns zum Nachdenken gebracht: Jetzt, da wir wissen, was diese neurologische Entwicklungsstörung verursacht, können wir sie dann auch rückgängig machen, sobald sich das Gehirn entwickelt hat?“, fragt Gaia Novarino, Professorin für Neurowissenschaften, deren Team die BCKDK-Mutation und ihre Verbindung zu Autismus im Jahr 2012 entdeckt hat. „Können wir in der Zeit zurückgehen?“

Preisträger

Novarino ist eine renommierte Neurowissenschafterin aus Italien, die für ihre Arbeit auf dem Gebiet der Autismusforschung zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, darunter den Verdienstorden der Italienischen Republik. „Ich habe mich schon immer für genetische Störungen interessiert und war erstaunt über den allgemeinen Mangel an Kenntnissen über pädiatrische, neurologische Entwicklungsstörungen“, erklärt sie. „Wir wissen zu wenig über diese Krankheiten.“

Da Autismus das sich entwickelnde Gehirn lange vor der Geburt prägt, gehen viele davon aus, dass er unumkehrbar ist – ein lebenslanger Zustand, der bestenfalls mit psychologischer Unterstützung in Kombination mit Sprach- und Physiotherapie in den Griff zu bekommen ist.

Manche Menschen ziehen es vor, auf eine Behandlung zu verzichten, weil sie nicht glauben, dass Autismus geheilt werden muss, sondern diesen als integralen Bestandteil der Persönlichkeit betrachten. „Nicht jeder möchte, dass sein ASD oder das ASD seines Kindes behandelt wird“, fügt Novarino hinzu. „Wenn die Symptome nicht sehr ausgeprägt sind, kann eine Person mit minimaler Unterstützung mit der Störung leben und den Autismus als einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit betrachten.“

Neuere Forschungen haben Wissenschafter dazu veranlasst, zu beurteilen, ob einige Formen von ASD möglicherweise behandelbar sind – entweder ganz oder teilweise.

Tests an Mäusen

Novarinos Team, ansässig am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in der Nähe von Wien, führte im Rahmen des fünfjährigen europäischen Forschungsprojekts REVERSEAUTISM, das im September 2022 endete, Experimente an Mäusen durch, um Antworten zu finden. Mit finanzieller Unterstützung der EU haben die Forscher Mäuse genetisch so verändert, dass sie essentielle Aminosäuren nicht richtig verarbeiten können, ähnlich wie Kinder mit der BCKDK-Genmutation.

Aminosäuren sind Proteinbausteine, die für lebenswichtige Reaktionen innerhalb und zwischen den Nervenzellen benötigt werden. Der Körper kann Aminosäuren nicht selbst herstellen, sondern muss sie aus Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fisch, Getreide und Nüssen beziehen.

Das Team fand heraus, dass Nagetiere mit dieser Mutation nach der Geburt sowohl motorische als auch soziale Schwierigkeiten entwickelten. „Diese Mäuse haben Verhaltensprobleme“, sagt Novarino. „Sie bewegen sich auch auf eine seltsame Art und Weise, haben Koordinationsprobleme.“

REVERSEAUTISM ging dann noch einen Schritt weiter und untersuchte, ob durch die Injektion der fehlenden Aminosäuren direkt in die Gehirne der betroffenen Mäuse deren autismusähnliche Symptome rückgängig gemacht werden könnten. „Die Antwort lautete: ja“, sagte Novarino. „Nicht alle Symptome verschwanden, aber bei den Mäusen, die Injektionen erhielten, verbesserten sich sowohl das Sozialverhalten als auch die Koordination erheblich. Mit anderen Worten: Einige Anzeichen der Störung haben sich umgekehrt.“

Studie mit 21 Kleinkindern

Die Ergebnisse von REVERSEAUTISM faszinierte Dr. Angeles García-Cazorla aus Spanien so sehr, dass sie beschloss, zu untersuchen, ob sich die Symptome bei Kindern mit einem BCKDK-Mangel verbesserten, wenn sie die fehlenden Aminosäuren als Nahrungsergänzungsmittel in Verbindung mit einer proteinreichen Ernährung einnahmen. Dr. García-Cazorla ist Leiterin der Abteilung für Stoffwechselkrankheiten am Krankenhaus Sant Joan de Déu in Barcelona.

Die fehlenden Aminosäuren sind Leucin, Valin und Isoleucin. Die Studie basierte auf 21 Patienten im Alter zwischen acht und 16 Monaten, die aus Zentren in der ganzen Welt rekrutiert wurden. Die Ergebnisse waren sehr vielversprechend.

„Im Allgemeinen verbesserten sich alle Patienten, insbesondere hinsichtlich des Wachstums ihres Kopfes, was darauf hindeutet, dass es zu einer Vermehrung der Neuronen kam“, sagt García-Cazorla. „Sie zeigten auch eine verbesserte motorische Funktion. Kleinkinder, die nicht fähig waren zu laufen, konnten jetzt laufen und Kleinkinder, die nicht sprechen konnten, entwickelten eine grundlegende Sprache.“

Je früher, desto besser

Je früher die Behandlung begonnen wurde, desto besser waren die Ergebnisse. „Bei den drei Kindern, die vor dem zweiten Lebensjahr mit der Nahrungsergänzung begannen, war die Entwicklung viel besser, und das Kind, das mit acht Monaten begann, schnitt am besten ab: es hatte im Alter von drei Jahren eine normale Gehirnentwicklung ohne Anzeichen von Autismus“, sagt García-Cazorla.

Die Studie wurde im Rahmen einer von der EU initiierten Gesundheitsallianz namens European Reference Network for Rare Hereditary Metabolic Disorders (MetabERN) durchgeführt, die von Patienten und Experten geleitet wird.

Wenn künftige Studien mit einer größeren Kohorte von Kleinkindern mit BCKDK-Mangel die Ergebnisse der MetabERN-Untersuchung bestätigen, hoffen García-Cazorla und Novarino, dass die nationale Gesundheitspolitik dahingehend geändert wird, dass alle Säuglinge bei der Geburt auf BCKDK-Mangel getestet werden müssen. Dies wäre dann Teil des „Fersenstich“-Tests für Neugeborene, mit dem bis zu 25 seltene, aber schwerwiegende Gesundheitszustände überprüft werden.

„Eine der Herausforderungen auf dem Gebiet des Autismus besteht darin, dass die Diagnose in der Regel recht spät gestellt wird – selten vor dem 3. oder 4. Lebensjahr – und zu diesem Zeitpunkt wird es schwierig, die Störung zu behandeln“, erklärt Novarino. „Unsere Arbeit zeigt, dass ein frühzeitiger Beginn der Nahrungsergänzung einen echten Unterschied im Leben der Menschen ausmachen kann.“

Sie und ihr Team verfolgen diese Forschungsrichtung in einem europäischen Projekt namens SecretAutism, das im Dezember 2022 begann und bis November 2027 laufen wird. Sie erhielten eine EU-Finanzierung, um im Labor Hirngewebe mit menschlichen Stammzellen zu züchten.

Durch die Untersuchung dieser „Organoide“ erhoffen sich die Forscher weitere Erkenntnisse darüber, was genau die vielen verschiedenen Gene, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden, im Körper tun, in welchen Stadien sich Probleme entwickeln und wie man den Prozess unterbrechen kann. „Wir nähern uns diesem Thema aus vielen Blickwinkeln und versuchen zu verstehen, wie wir Patienten mit ASD sonst noch behandeln können“, sagte Novarino. „Es ist eine sehr komplexe Forschung, aber das wird uns nicht abschrecken.“

Weitere Infos

Artikel von Vittoria D’Alessio

APA-SCIENCE CONTENT-KOOPERATION MIT HORIZON

Dieser Artikel wurde erstmals in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht.