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Kooperation / EU-Magazin Horizon / 17.04.2024, 15:32

Weckruf: Weniger Verkehrsunfälle durch individuelle Fahrerwarnungen

EU-Forscher entwickeln fortschrittliche Technologien, um frühe Anzeichen von Müdigkeit und unberechenbarem Verhalten bei Fahrern zu erkennen. 

APA/HARALD SCHNEIDER
Neue Assistenzsysteme sollen Müdigkeit von Fahrern so früh wie möglich erkennen

Wenn Carlo Polidori am Steuer sitzt und anfängt, sich den Nacken zu reiben, weiß er, dass es wahrscheinlich an der Zeit ist, eine Pause einzulegen. Diese Geste ist ein Zeichen dafür, dass er hinter dem Steuer müde wird. 

Polidori, der Präsident des italienischen Verbands der Verkehrssicherheitsexperten ist, fuhr jahrzehntelang Auto, ohne sich seiner Angewohnheit bewusst zu sein. Er entdeckte sie im Jahr 2022, als er an einem EU-Projekt teilnahm, bei dem es um die Entwicklung eines fortschrittlichen elektronischen Geräts ging, das die Fahrleistung von Personen überprüfen kann. 

Müdigkeitsanzeichen  

„Früher hatte ich keine Ahnung, dass dies ein Anzeichen dafür ist, dass ich müde werde“, sagt Polidori, dessen Verband – auch bekannt als AIPSS – bewährte Verfahren im Bereich der Verkehrssicherheit fördert. 

AIPSS ist Teil eines von der EU geförderten Forschungsprojekts zur Entwicklung einer besseren Methode zur Erkennung des Einsetzens von geistiger und körperlicher Müdigkeit bei Fahrern. Das Projekt mit dem Namen FITDRIVE läuft über dreieinhalb Jahre bis Ende Februar 2025. 

Das FITDRIVE-Team unter der Leitung des ITCL-Technologiezentrums in Spanien entwickelt eine Technologie, die in die Software des Fahrzeugs integriert wird und dem Fahrer individuelle Warnungen sendet, wenn er sich mehr auf die Straße konzentrieren oder sogar eine Pause einlegen sollte. 

„Wir beobachten den physiologischen Zustand des Fahrers“, erklärt Polidori. „Wir sehen, wann ein Fahrer fahrtüchtig ist und ergreifen Maßnahmen, wenn er es nicht ist.“ Bestehende Technologien können zwar Warnungen senden, wenn jemand von der Fahrspur abweicht oder unregelmäßig fährt, doch handelt es sich dabei meist um Onboard-Software, die nicht für jeden Fahrer individuell angepasst ist. 

Straßentests 

Laut einem Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Straßenverkehrssicherheit aus dem Jahr 2021 ist die Übermüdung des Fahrers bei 15 bis 20 % der schweren Verkehrsunfälle mitverantwortlich. 

Nach Angaben der Europäischen Kommission kamen 2023 in der EU rund 20.400 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Obwohl die Zahl einen Rückgang von 1 % gegenüber 2022 darstellte, sagte die Kommission, dass zu wenige EU-Länder auf dem richtigen Weg seien, um das Ziel der Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2030 zu erreichen.  

FITDRIVE gehört zu einer Reihe von EU-Projekten, die nach Wegen suchen, die Zahl der Verkehrstoten in Europa zu senken. Die Forscher glauben, dass die Menschen mit der richtigen Technologie dazu gebracht werden können, sicherer zu fahren. 

Die Herausforderung für die Forschung beginnt bei den Grundlagen: zu wissen, wann genau ein Fahrer müde wird. Das FITDRIVE-Team sammelt diese Daten durch Tests mit Gruppen von Freiwilligen. Bisher haben die Freiwilligen einen Fahrsimulator verwendet und sind unter verschiedenen Wetterbedingungen in Italien und Spanien auf abgesperrten Strecken gefahren. Diese Tests fanden im Jahr 2023 statt. 

Bevor das Projekt abgeschlossen wird, ist geplant, reale Tests in Irland, Italien und Spanien durchzuführen. Die Informationen, die während der ersten beiden Testreihen gesammelt wurden, stammten von Kameras, die die Gesichter der Fahrer beobachteten, und von Headsets, die die Gehirnströme aufzeichneten. 

Die Daten werden in einen Algorithmus einfließen, der in Kombination mit einem elektronischen Armband erkennen kann, wann ein Fahrer müde wird. Das Armband überwacht Parameter wie Herzfrequenz, Armbewegungsmuster und Schweißbildung, um festzustellen, wann ein Fahrer müde wird. 

Der Algorithmus lernt ständig dazu und passt sich an jeden einzelnen Fahrer an. Das System optimiert sich, indem es kontinuierlich Daten sammelt, um ein Bild von jedem Fahrer zu erstellen und Risiken während einer bestimmten Fahrsitzung zu bewerten. Auf diese Weise kann es individuelle Anzeichen von Müdigkeit erkennen – wie wenn Polidori seinen Nacken berührt. 

„Das ist der große Unterschied zu bestehenden Systemen zur Erkennung von Müdigkeit“, fügt er hinzu. „Dieses System stellt sich auf jeden Fahrer ein. Es kann ihn auf Probleme hinweisen, bevor er sie selbst bemerkt.“ 

Upgrade des Systems 

Die derzeitigen Technologien, die erkennen können, ob eine Person unkontrolliert fährt oder von der Spur abweicht, basieren auf Tests, die an einer großen Anzahl von Freiwilligen durchgeführt wurden, und bieten einen Algorithmus, der für alle Fahrer gleich ist. Da jeder Mensch einen anderen Fahrstil hat, sind diese Methoden nicht immer genau genug. 

Das Projekt hat 10 Partner aus sieben Ländern, darunter Frankreich, Deutschland, Spanien und Schweden. Zu den Teilnehmern gehören Advanticsys, ein spanisches Unternehmen, das auf Sensoren und Software spezialisiert ist, und der Europäische Fahrschulverband.  

Die FITDRIVE-Technologie könnte sogar in selbstfahrenden Autos nützlich sein, die in absehbarer Zukunft Passagiere benötigen, die die Fahrweise überwachen und bereit sind, bei Bedarf die Kontrolle zu übernehmen. 

Damit dies möglich ist, muss eine Person im Fahrzeug in den entscheidenden Momenten aufmerksam sein und darf weder schlafen noch lesen. Ein System wie das von FITDRIVE könnte in selbstfahrenden Autos eingesetzt werden, um die Insassen zu überwachen und sicherzustellen, dass sie aufmerksam genug sind, um einzugreifen. 

Sicherer Gütertransport 

Ein weiteres von der EU finanziertes Projekt befasst sich mit der Frage, wie man sicherstellen kann, dass die Fahrer von Schwerlastfahrzeugen hinter dem Steuer wachsam bleiben. 

Das Projekt mit dem Namen i-DREAMS, das im April 2023 nach vier Jahren abgeschlossen wurde, entwickelte eine Methode, um Lastwagenfahrer zu benachrichtigen, wenn sie auf unsichere Weise zu fahren begannen. Schwere Nutzfahrzeuge waren im Jahr 2020 für 14 % aller Verkehrstoten in der EU verantwortlich. 

Das Projekt brachte 13 Partner aus acht Ländern zusammen, darunter Österreich, Belgien, Griechenland, die Niederlande und Slowenien. Es führte Tests mit 600 Fahrern an Standorten in fünf Ländern durch. Anhand der Daten der Fahrzeuge, der Fahrer und der Umgebung erstellte das Projektteam ein statistisches Maß dafür, wann ein Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug hatte und sendete der Person, falls dies nicht der Fall war, eine akustische Warnung über eine Smartphone-App. 

Wenn eine Person zu dicht auf das vorausfahrende Fahrzeug auffuhr, insbesondere bei nasser Fahrbahn, wurde ein Signal gesendet. Die App kann die Fahrer auch dazu anleiten, sich zu verbessern. Während des Projekts wurden den Testfahrern Punkte für ihre Fahrweise gutgeschrieben. 

„Die akustischen Signale verbesserten die Fahrqualität der Testfahrer“, sagt Tom Brijs, der i-DREAMS leitete und Professor am Fachbereich für Verkehrstechnik an der Universität Hasselt in Belgien ist. „Die Fahrqualität der Fahrer, die in der App gecoacht wurden, verbesserte sich sogar noch weiter.“ 

Versicherungsgarantie 

Die App wird bereits von einigen Unternehmen verwendet. Eine Versicherungsgesellschaft beispielsweise nutzt die App, um ihre versicherten Lastwagenfahrer zu überwachen – insbesondere bei Spediteuren mit schlechtem Ruf, so Brijs. 

Einige Unternehmen, insbesondere solche mit überdurchschnittlich hohen Unfallraten, haben weniger Zugang zu erschwinglichen Versicherungen. Die i-DREAMS App ermöglicht es solchen Spediteuren, eine Versicherung abzuschließen, solange alle ihre Fahrer die App nutzen. 

Autohersteller könnten diese Technologie in Zukunft auch nutzen, um zu überprüfen, ob Fahrer, die den Tempomat benutzen, wirklich aufmerksam sind, insbesondere bei gefährlichen Bedingungen. „Wir müssen den Fahrer dazu bringen, sicherer zu fahren, insbesondere jetzt, da die Autos teilweise autonom fahren“, fügt Brijs abschließend hinzu. 

Weitere Informationen 

Artikel von Tom Cassauwers 

APA-Science Content-Kooperation mit Horizon

Recherchen zu diesem Artikel wurden vom Horizon-Programm der EU gefördert. Die Ansichten der Befragten spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Kommission wider Dieser Artikel wurde ursprünglich in Horizon, dem EU-Magazin für Forschung und Innovation, veröffentlicht