„Das bringt kein Herrgott mehr zum Stehen!“
Einst soll sie das Lustgefühl beflügelt und die Menschen in den Wahnsinn getrieben haben. Heute stehen wohl eher umweltfreundliche Aspekte und Kostenpunkte beim Zugfahren im Vordergrund. Mit APA-Science sprach Nikolaus Reisinger von der Universität Graz über die Erfindung der Eisenbahn, die der Historiker in der kollektiven Wahrnehmung sogar über die Mondlandung stellen würde.

„Schrecklich schnell ging’s, und ein solches Brausen war, dass einem der Verstand stillstand. Das bringt kein Herrgott mehr zum Stehen!“ So schrieb der steirische Schriftsteller Peter Rosegger über sein erstes Erlebnis mit der Eisenbahn am Semmering. Dort hat Nikolaus Reisinger gemeinsam mit dem Fachexperten für Forschung und Entwicklung Günter Dinhobl und der Kunsthistorikern Kerstin Ogris der ÖBB zum 150-Jahr-Jubiläum der Semmeringbahn im Jahr 2004 die erste Ausstellungshalle des Südbahn Museums geschaffen.
„Da bestanden natürlich extreme Ängste“ in der frühen Eisenbahnzeit, sagt Reisinger, und die seien gar nicht so irrational gewesen, schließlich hat eine Dampflokomotive Funken und kohlschwarzen Rauch versprüht. Sie war laut, schwer und vor allem schnell. Schienenbrüche und Kesselexplosionen waren in der Frühzeit keine Seltenheit. Die erste dampfbetriebene Überlandeisenbahn, die 1825 von Stockton nach Darlington fuhr, war ursprünglich vorrangig für den Güterverkehr gedacht. „Es hat sich ja keiner vorstellen können, dass man damit Menschen transportiert, da dies als viel zu gefährlich schien“, so der Historiker.

„Vernichtung“ der Zeit und „Verkürzung“ des Raumes
Es gab in der Frühzeit der Eisenbahn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auch Ärzte, die das Zugfahren für eine „Entgleisung“ des Verstandes hielten. Ein – vermutlich fiktives – Gutachten bayrischer Ärzte aus dem Jahr 1835 diagnostizierte bei den Passagieren eine als „delirium furiosum“ bezeichnete „geistige Unruhe“. Auch wenn der Bericht erfunden sein mag, so kann man darin doch eine gewisse Technophobie und Innovationsskepsis erkennen.
„Die Faszination darüber, in so kurzer Zeit, so weite Strecken zu bewältigen, war ein Quantensprung, den wir aus heutiger Sicht gar nicht mehr nachvollziehen können“, betont Reisinger. „Ich würde das in der kollektiven Wahrnehmung sogar über die Mondlandung stellen.“
In der frühen Eisenbahnzeit belief sich die durchschnittliche Geschwindigkeit der Züge immerhin auf zirka 30 bis 50 km/h, was in etwa dem Dreifachen der von einer Postkutsche erreichten Geschwindigkeit entsprach. Die Reisenden empfanden und beschrieben diesen Prozess fast schon wie in einem Science-Fiction-Film als „Vernichtung“ der Zeit und „Verkürzung“ des Raumes, zitiert Reisinger den deutschen Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch.

Das Angstlust-Prinzip
Folgt auf eine bewusst gesuchte Angstspannung eine Angstlösung, so wird dies in der Regel als angenehm empfunden, erklärt der Geisteswissenschafter. Dementsprechend würden viele Menschen auf der Suche nach Erregung, Nervenkitzel oder anderen Reizen eine Lust am Risiko und an der Gefahr entwickeln. Sigmund Freud, der selbst lange Zeit an Eisenbahnangst litt, attestierte vor allem männlichen Pubertierenden ein besonderes Interesse an Eisenbahnfahrten, da die bei der Eisenbahnfahrt wahrgenommenen Bewegungsempfindungen bei den Jugendlichen sexuell motivierte Lustgefühle hervorrufen würden.
Es war Michael Balint, der den Begriff der „Angstlust“ geprägt hat, erzählt Reisinger, der wir uns „aus der Sicherheit des spielerischen Umgangs und Erlebens im Zusammenhang mit Schwindel, Gleichgewichtsstörungen oder Gleichgewichtsverlust wie Schaukeln, Karussellfahren oder Berg- und Talbahnfahren hingeben“. Der ungarisch-englische Psychoanalytiker hatte das Phänomen im Kontext von Jahrmärkten in den 1950er Jahren erforscht. Dieser Aspekt des Angst-Lust-Prinzips sei in der Eisenbahngeschichtsschreibung bisher nicht wahrgenommen geworden, betont Reisinger. Die wissenschaftliche Forschung stecke hier noch „in den Kinderschuhen“, sagt der Experte.

Schneller!
Die Geschwindigkeit zu maximieren war immer auch ein Ziel in der Entwicklung des Eisenbahnwesens. So erreichte man 1858 Triest von Wien aus mit dem Eilzug in 16 Stunden und 50 Minuten. Heute kann man Triest von Wien aus über Villach in ca. 8 und über Graz in zirka 7 Stunden erreichen. Auf den „österreichischen“ Bahnen belief sich die Grundgeschwindigkeit für Schnellzüge auf Hauptbahnen am Ende des 19. Jahrhunderts auf 80 bis 90 km/h. Personenzüge fuhren durchschnittlich 65 bis 80 km/h, Gütereilzüge zirka 45 km/h und Güterzüge 40 km/h schnell.
"Über 400 km/h fährt man derzeit nur in China"
Heute werden im Plandienst Höchstgeschwindigkeiten bis zu 350 km/h erreicht. Über 400 km/h fährt man derzeit nur in China, sagt Reisinger, etwa zwischen Shanghai und Hangzhou. Der seit 2012 im Bau befindliche 27,3 Kilometer lange Semmering-Basistunnel soll 2030 fertig sein. Hier werden Geschwindigkeiten von bis zu 230 km/h möglich sein. Im Vergleich dazu fährt man heute über die historische Semmeringstrecke mit zirka 70 km/h.

Pünktlich wie die Eisenbahn
Seit ihrer kommerziellen Nutzung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwindet die Eisenbahn nicht nur Raum und Zeit, sie hat den Güter- und Personenverkehr revolutioniert und Eingang in unseren Alltag und damit auch in unsere Alltagssprache gefunden. Tatsächlich haben neuere Forschungen gezeigt, dass bisher kaum eine andere „Fachsprache“ die Entwicklung der deutschen Sprache in den Bereichen der Phraseologie und Metaphorik in so bemerkenswerter Weise beeinflusst hat wie jene des Eisenbahnwesens.
„Man war bestrebt, dieses neue Geschwindigkeitserleben entsprechend zu verbalisieren“, so Reisinger. In der Frühzeit der Eisenbahn findet man auch Karikaturen, die versuchen, diese damals immer wieder als Geschwindigkeitsrasch bezeichneten Geschwindigkeitserfahrungen zu bewältigen, indem man diese ironisierte. Für das Südbahn Museum hat der Historiker über 70 Redewendungen, die aus dem Eisenbahnwesen stammen, zusammengesucht. Zum Beispiel: „Es ist höchste Eisenbahn“ oder „der Zug ist abgefahren“. Jemandem „die Weichen stellen“ oder „etwas auf Schiene bringen“. „Ein- oder mehrgleisig unterwegs“ oder „pünktlich wie die Eisenbahn“ sein.

Die Verkehrswertigkeit der Eisenbahn
Die Pünktlichkeit ist bis heute ein wesentlicher Aspekt, der die Verkehrswertigkeit der Eisenbahnen ausmache. Darüber hinaus besteht diese nach Reisinger in der „Schnelligkeit“ (und nicht nur in ihrer Geschwindigkeit), in ihrer „Massenleistungsfähigkeit“ (im Personal- und Güterverkehr), in der Fähigkeit der „gleichmäßigen Bedienung aller Teile eines Raumes“ („Netzbildung“), der „Berechenbarkeit“ der Zeitpunkte (Fahrpläne), der „Häufigkeit“ der Intervalle, der „Sicherheit“ beziehungsweise „Störungsfreiheit“ sowie last not least in der „Bequemlichkeit“ der Eisenbahnen.

Heute bestimme vor dem Hintergrund umwelt- und energiepolitischer Überlegungen vor allem die Frage der Nachhaltigkeit den Diskurs über den Wert der Eisenbahnen. „Selbstverständlich muss auch der Strom gewonnen und finanziert werden, aber wir haben damit eine relativ saubere Energie und ich so bin überzeugt, dass die Eisenbahn nach wie vor ein wichtiges und zukunftsorientiertes Verkehrsmittel“ ist, so Reisinger.
„Die frühe Eisenbahnreise: Geschwindigkeitsrausch – Wahrnehmung – Angstlust und Aneignung“ von Nikolaus Reisinger, in: „Lok Motive“, Herausgegeben von: Ursula Dorfner, Valentina Ljubic, Wolfgang Tobisch, Gabriele Zuna-Kratky.
„Die Eisenbahn als Faszinosum – Im Spannungsfeld prototypischer und archetypischer Erfahrungswelten“ von Nikolaus Reisinger, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, herausgegeben von Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger