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Mehr zum Thema / Paul Tschierske / Donnerstag 02.06.22

Russisches Gas noch bis mindestens 2027 ein Faktor

Raus aus der Erdgasversorgung durch Russland – das will die Politik lieber heute als morgen. Genau das wird allerdings kaum möglich sein, wie Franz Angerer, Geschäftsführer der Österreichischen Energieagentur, APA-Science erklärte. Den Großteil seiner Einschätzungen teilt Jürgen Streitner, Abteilungsleiter für Umwelt- und Energiepolitik der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), der ebenfalls mit APA-Science sprach.
Foto: APA/Jäger

„Wir haben über die vergangenen 50 Jahre eine infrastrukturelle Abhängigkeit von Russland auf dem Erdgassektor geschaffen“, macht Angerer deutlich. Aus dieser könne man sich nicht über Nacht befreien. Eine aktuelle Analyse der Österreichischen Energieagentur – Austrian Energy Agency (AEA) für das Klimaschutzministerium ergab, dass man frühestens ab 2027 ohne russisches Erdgas auskommen kann. „Und in dieser Rechnung bleiben Unwägbarkeiten“, räumt Angerer ein.

Ein paar Zahlen

 

Mit 89 Terrawattstunden (TWh) war Erdgas 2019 der zweitgrößte Energieträger, 22 Prozent des österreichischen Bruttoinlandsverbrauchs wurden laut Statistik Austria mit Erdgas abgedeckt. Nummer eins war Öl mit 37 Prozent. Diese Niveaus gelten auch für 2021. Von den 89 TWh wurden 79 TWh importiert, davon rund 80 Prozent (63 TWh) aus Russland. 10 TWh wurden im Schnitt der vergangenen Jahre in Österreich selbst produziert. Die Menge an russischem Erdgas lasse sich nicht kurzfristig substituieren, hält Angerer fest. „Wir gehen zumindest nicht davon aus, dass es schneller als bis 2027 möglich ist.“ In der Modellrechnung der Analyse müssten für eine Unabhängigkeit von Russland bis 2027 von den 89 TWh erst einmal 29 TWh eingespart werden.

Jürgen Streitner hält diesen Plan für ziemlich ehrgeizig. „Die Europäische Kommission hat sich das Ziel gesetzt, bis 2027 kein russisches Gas mehr zu beziehen. Da ist Österreich in einer schwierigen Lage.“ Für Länder wie Portugal oder Spanien, die seit Jahren auf Flüssiggas (LNG) setzen und somit kaum russisches Erdgas brauchen, sei dies jetzt schon umgesetzt. „Das ist für Länder wie Deutschland, Österreich, Ungarn und andere osteuropäische Staaten viel schwieriger, insbesondere mit Blick auf saubere Energie. Es ist gut, dass wir keine dreckigen Kohlekraftwerke mehr betreiben. Aber natürlich ist die Versorgungslage im Strombereich dadurch schwieriger.“

57 Prozent des Erdgases werden in Österreich von der Industrie genutzt, 30 Prozent von den heimischen Haushalten. Auch um Strom und Fernwärme herzustellen, ist Gas oft notwendig. „In der Industrie sind große Potenziale vorhanden, Erdgas einzusparen. Das ist etwa durch Effizienzmaßnahmen, Umstellung von Prozessen oder einen ‚Fuel switch‘ – also den Einsatz eines anderen Energieträgers – möglich“, sagt Angerer. Bei den österreichischen Haushalten geht es vor allem um die Raumwärme. Geheizt mit „dem Sorgenkind Gastherme“, wie Angerer es nennt, wird in Wien in 49 Prozent der Haushalte, in Niederösterreich in 28 Prozent, im Burgenland in 25 Prozent und in Oberösterreich immerhin noch in 16 Prozent der Haushalte. Weiter geht es mit Vorarlberg (13 Prozent), Tirol (zehn), Salzburg (neun) und der Steiermark (acht). Schlusslicht ist Kärnten mit drei Prozent. Thermische Sanierungen und ein Wechsel auf nachhaltige und effiziente Heizsysteme seien hier die Lösung. Im Haushalt könne allerdings jede und jeder weitere Maßnahmen setzen und damit Erdgas sparen: „Im Privaten zum Beispiel durch das Absenken von Raumtemperaturen oder Abschalten von Heizkörpern in Räumen, die nicht genützt werden. Heizkörper sollten generell mit Thermostaten ausgestattet werden, alte Gasgeräte müssen serviciert werden.“ Auch eine Dusche statt eines Vollbades mache sich in Summe bemerkbar. Angerer geht auch davon aus, dass Kachelöfen, die bisher häufig eher für die gemütliche Stimmung zuständig waren, im kommenden Winter verstärkt als Ergänzung oder Ersatz zur Erdgastherme eingesetzt werden.

Streitner betont das Problem der großen Menge, die mit 29 TWh laut AEA eingespart werden soll. Die Industrie sei bereits sehr effizient, kurzfristig werde sich das Erdgas nicht so schnell ersetzen lassen. „Ich halte diese Menge für sehr, sehr ambitioniert, wenn nicht unrealistisch. Zumindest nicht, ohne die Produktion stark herunterzufahren. Das sollte klarerweise kein Ziel sein.“

Möglichkeiten für eine Erdgasunabhängigkeit von Russland

 

Neben Einsparmaßnahmen listet die Studie noch weitere Möglichkeiten auf, Gas zu substituieren: Forcierter Ausstieg aus Gas in der Raumwärme, Einstieg in Erneuerbare (minus 9 TWh Gas aus Russland); Beschleunigte Sanierung von Gebäuden (minus 1-2 TWh); Umstieg auf Erneuerbare in Industrie und Gewerbe (minus 6 TWh); Reduktion des Einsatzes von Erdgas in der Industrie (Stichwort Investitionen in Effizienz) (minus 4 TWh); Substitution von Erdgas-Kraftwerken durch den Ausbau von erneuerbarem Strom (minus 4 TWh); Geothermie, Solarthermie, Wärmepumpen und Biogene für Fernwärme (minus 2 TWh); Saisonale Nutzung von Biomasse-Kraft-Wärme-Kopplung (minus 1 TWh Gas aus Russland); Endenergieeffizienz (Geräte, Betriebsoptimierung, Verhaltensänderung) (minus 1 TWh).

 

Zugleich könne Österreich bei den erneuerbaren Energien die Produktion ausbauen: Nutzung des Biomethans aus der aktuellen Biogas-Verstromung (minus 1 TWh Gas aus Russland = 1 TWh Biomethan aus Österreich; Zusätzliche Mobilisierung von Biomethan (minus 9 TWh Gas aus Russland = 9 TWh mehr Biomethan aus Österreich); Produktion von grünem Wasserstoff für die Industrie (gH2) (minus 4 TWh Gas aus Russland = 4 TWh grüner Wasserstoff aus Österreich).

Bezüglich der gelisteten Potenziale für „grüne Gase“ aus dem Inland macht Angerer deutlich, dass bei der Abschätzung der Mengen ausschließlich mit biogenen Reststoffen kalkuliert wurde. „Es geht nicht darum, Mais dafür anzubauen. Es geht um die Abfallströme.“ Beispiele dafür sind etwa Biotonnenmaterial, Erntereste, Schlachtreste, möglicherweise auch feste Biomasse wie Hackgut und Rinde. Das zeigt gleichzeitig die Unwägbarkeiten der Modelle: Laut Angerer rechne man mit maximal 10 TWh an grünen Gasen, eine sehr „ambitionierte Menge“. Von Seiten der Gaswirtschaft werden jedoch vielfache Mengen, bis zu 40 TWh, propagiert. Es gelte hier sehr genau zwischen theoretischen und konkret realisierbaren Potenzialen zu unterscheiden. Selbst die Gewinnung von 10 TWh an grünem Gas würde zu deutlichen Nutzungskonkurrenzen führen.

Die „vielfache Menge“ ordnet Streitner ein, indem er verdeutlicht, dass sich die 40 TWh aus einer Studie auf die Gesamtpotenziale beziehen und nicht auf 2030 begrenzt. „Ursprünglich waren im Regierungsprogramm fünf TWh bis 2030 vorgesehen, zurzeit stehen wir jedoch nur bei 0,14 TWh. Zehn sind ambitioniert, aber möglich.“

Diversifizierung der Lieferländer

Zudem müsse man die Lieferländer diversifizieren. Zu den aktuellen 16 TWh, die aus anderen Ländern als Russland importiert werden, primär Norwegen, müssen noch weitere 6 TWh hinzukommen, z.B. über Flüssiggas (LNG). Auch der Import von grünem Wasserstoff ließe sich um 14 TWh steigern, dafür brauche es strategische Kooperationen mit Exportländern sowie eine wasserstoffgerechte Transportinfrastruktur. Auf einen Ausbau der Infrastruktur verweist auch Streitner. „Wir brauchen eine verbesserte Gasinfrastruktur, die in Zukunft auch für Wasserstoff genutzt werden kann.“

Die Diversifizierung sieht die AEA ebenfalls als einen wichtigen Punkt, um die Abhängigkeit von russischem Gas möglichst schnell zu realisieren. Dies sei eine große Herausforderung für die etablierte Gaswirtschaft. Wenn das bis 2027 gelingen soll, brauche es zumindest zusätzliche 34 TWh an Importen aus anderen Ländern.

Lösung kann nur europäisch sein

Sehr wichtig sei bei all dem eine solidarische europäische Position, betont Angerer. „Allein hat Österreich geopolitisch schlechte Karten. Nur als Mitglied der EU haben wir gemeinsam genug Marktmacht.“ Gerade mit Blick auf LNG habe die europäische Perspektive große Bedeutung, da die Lieferung über Seehäfen stattfindet, die Österreich bekanntlich nicht hat. „Es geht beispielsweise um LNG-Terminals in Italien, dort kann LNG aus aller Welt angeliefert werden.“ LNG hat den Vorteil, dass es einen weltweiten Markt gibt und dieses Erdgas in verflüssigter Form mit Schiffen transportiert wird. Aber auch Erdgas, das über klassische Pipelines transportiert wird, muss diversifiziert werden. Hier werden die Nordseeländer oder auch Nordafrika eine Rolle spielen.

Ein Anschluss an den LNG-Hafen im kroatischen Krk wäre laut Streitner eine zusätzliche Option. „In der Zukunft ließen sich LNG-Häfen als Wasserstoffhäfen nutzen. Damit können wir auch nicht von einem Lock-In sprechen.“ Also einem System, welches nur für LNG nutzbar wäre und überflüssig würde, sollte man die Ressource wechseln.

Leere Speicher wären „Fiasko“

 

Angerer betont zudem die Bedeutung von vollen Speichern zu Winterbeginn. „Wünschenswert wäre es, dass der Gasfluss wie gewohnt in Österreich ankommt. Gleichzeitig ist es sehr wichtig, dass im Herbst die Speicher in Europa voll sind. Je voller sie sind, desto leichter kommen wir durch den Winter.“ Dies sieht Streitner genauso.

 

Ein „absolutes Fiasko“ hingegen wären laut Angerer leere Speicher zu Winterbeginn. „Davon ist, aus heutiger Sicht, nicht auszugehen  Die Speicher sind für diese Jahreszeit gut gefüllt, mehr als in den letzten Jahren.“

 

Doch was würde passieren, sollte es zum unwahrscheinlichen Fiasko kommen? „Sobald die Gasströme auf unabsehbare Zeit unterbrochen werden, kommt es zur Energielenkung, zur Abschaltung von großen Abnehmern. Systemrelevante Verbraucher wie zum Beispiel Strom- und Fernwärme-Kraftwerke wären weiter zu versorgen. Auch die Gesundheitsversorgung würde weiter Gas erhalten, ebenso die Nahrungsmittelproduktion.“ Dabei sei Angerer zufolge aber eines wichtig: Die Energielenkung räumt den Haushaltskunden Vorrang ein, Heizungen würden also nicht kalt bleiben. Trotzdem würde es eine Diskussion um die Formen des Gasverbrauchs geben müssen. Dem schließt Streitner sich an: „Daher muss die Bundesregierung einen klaren Notfallplan vorlegen. Es muss klargestellt werden, welche Versorgung unabdingbar ist.“

Genau deswegen brauche es endlich einen Gesamtplan, fordert Streitner. „Die Studie der AEA spricht von Möglichkeiten, aber ohne wirklich Konkretes zu nennen.“ Hier sei nun die Politik gefordert, federführend mit den Betroffenen einen konkreten Gesamtplan auszuarbeiten. „Eine Potenzialanalyse reicht nicht, es braucht jetzt die Rahmenbedingungen, um diese umzusetzen.“ Gleichzeitig seien schnellere Genehmigungsverfahren nötig. „Wenn ein Wasserkraftwerk zehn Jahre bis zur Umsetzung braucht, dann ist das einfach zu lang.“ Hier könne man sich an dem Kommissionspaket „REPowerEU“ orientieren. „Ziele müssen jetzt auch auf den Boden gebracht werden“, betont Streitner.

Ein oder eine Vertreter/in des in diesen Fragen zuständigen Klimaschutzministeriums war für APA-Science trotz mehrmaliger Nachfrage bis Redaktionsschluss nicht erreichbar.

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