Seltene Erkrankungen: Hürden und Erleichterungen in der Medikamentenentwicklung
Wer an einer Rare Disease, oder auch Orphan Disease genannt, erkrankt ist, gehört zu den geschätzt 450.000 Österreicherinnen und Österreichern, deren Behandlungsbedarf verbesserungswürdig ist. Neben einem oftmals mehrjährigen Untersuchungsweg ist bei erfolgter Diagnose nicht sicher, ob es eine Therapieoption gibt. Dabei sind die Erkrankungen chronisch, oftmals lebensbedrohlich und machen invalide, so dass aufgrund des körperlichen und geistigen Zustandes keine Eigenständigkeit möglich ist.
Erschwerte klinische Studien
Bei einer erkrankten Person unter 10.000 ergibt sich bei einer seltenen Erkrankung eine sehr kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten für klinische Studien. Beispielsweise spricht man bei der Gliedergürtelmuskeldystrophie von einer Ultra Rare Disease, da nur eine Person von 100.000 betroffen ist und noch mehr Teilnehmende benötigt werden, um signifikante Studiendaten zu erhalten. Dabei muss langjährige Forschung im Anschluss über den Medikamentenpreis gedeckt werden, der den wenigen Patientinnen und Patienten beziehungsweise dem Gesundheitssystem sehr teuer kommt. Folglich sind Preise bei Orphan Drugs eher hoch. Beispielsweise kostet die einmal verabreichte Genersatztherapie gegen die Spinale Muskelatrophie bei Neugeborenen knapp zwei Millionen Euro.
Jedoch können diese einmaligen Kosten einer heilenden Therapie gegen langwierige Therapien aufgewogen werden. Für die pharmazeutische Industrie scheinen diese Marktbedingungen nicht rentabel genug, um den seltenen Erkrankungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Für Betroffene bedeutet das, neben den langwierigen Umständen der Diagnosefindung, eine medikamentöse Versorgungsunsicherheit. „Aufgrund der geringen Anzahl an Patientinnen und Patienten pro Land gibt es für die einzelnen Erkrankungen meist nur ein begrenztes Wissen und auch nur wenige spezialisierte Ärztinnen und Ärzte. Dies erschwert die Planung und auch die Durchführung klinischer Studien für alle Beteiligten. Geeignete Messparameter für den Erfolg einer Behandlung müssen teilweise von Grund auf neu entwickelt und auch mit den Behörden akkordiert werden“, so Alexander Herzog, Generalsekretär der Pharmig, Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs.
Medikamente mit Orphan Drug Status
Aus diesem Grund implementierte die EU im Jahr 2000 eine Orphan-Verordnung. Es wird betont, dass Menschen mit einer Rare Disease das gleiche Recht auf Behandlung haben wie andere Patientinnen und Patienten. Als Orphan Drug werden ausschließlich Medikamente beschrieben, die für seltene schwere und tödliche Erkrankungen bestimmt sind, und für die es aktuell noch keine zufriedenstellende Therapieoption gibt, oder die einen erheblichen Nutzen gegenüber einer bereits vorhandenen Therapie haben. Ein Medikament mit dem Orphan Drug-Status stellt somit immer einen Behandlungsvorteil dar.
Einhergehend mit diesem Status ergeben sich aus der EU-Verordnung Vorteile für Forschende an Orphan Drugs: Mit deren Einführung im Jahr 2000 ist nicht mehr jeder einzelne Mitgliedsstaat für die Zulassung einer Orphan Drug zuständig, sondern die zentrale europäische Zulassungsstelle European Medicines Agency (EMA). Das spart Zeit und Geld. Hinzu kommt eine Marktexklusivität für das Produkt ab Marktzulassung von zehn Jahren. Ersatzprodukte, also Generika und Biosimilars, dürfen in dieser Zeit nicht angeboten werden. Sie senken den Ursprungspreis für gewöhnlich um 80 Prozent. Zudem gibt es erhebliche Vergünstigungen bei der wissenschaftlichen Beratung, den Gebühren bei der zentralen Zulassungsstelle sowie weitere Fördermaßnahmen durch die EU.
Medikamentenentwicklung heute
„Von 2000 bis 2022 gab es insgesamt knapp 4.200 Einreichungen bei der EMA für einen Orphan Drug-Status, dem in rund 2.750 Fällen stattgegeben wurde“, so Brigitte Schwarzer-Daum, stv. Vorstand der Univ. Klinik für Klinische Pharmakologie der Medizinischen Universität Wien und Österreichs Delegierte zum Komitee für Orphan Medicinal Products (COMP) der EMA. „Die Forschungsaktivitäten haben seit dem Jahr 2000 deutlich zugenommen. Das zeigt die Zulassung von rund 200 Orphan Drugs in allen wichtigen Therapiegebieten in den vergangenen elf Jahren. Dennoch gibt es angesichts zwischen 6.000 und 8.000 geschätzten seltenen Erkrankungen immer noch sehr großen Handlungsbedarf“, so Herzog. Die im Verhältnis geringen Zahlen an zugelassenen Medikamenten verdeutlichen auch das hohe unternehmerische Risiko. Dennoch scheint das Interesse in der Pharmaforschung nicht mehr ausschließlich an Medikamenten-Bestsellern zu liegen. Die Förderungen seitens der EU ermöglichen ebenso finanziell schwächeren Unternehmen klinische Studien durchzuführen.
„Für die wissenschaftliche Beratung verrechnet die EMA für Orphan Drugs nur einen geringen Prozentsatz im Vergleich zu klassischen Medikamenten“, sagt Schwarzer-Daum. Aber nicht nur finanziell ist die EU-Verordnung eine Erleichterung: „Der Orphan Status soll die Entwicklung neuer Medikamente für seltene Erkrankungen fördern. Wenn es kein Medikament für eine bestimmte Erkrankung gibt, kann schon ein geringer Patientennutzen als Vorteil gesehen werden, auch wenn die Erkrankung noch nicht geheilt wird“, so Schwarzer-Daum. Schließlich handelt es sich bei einer Rare Disease nicht um eine Zivilisationskrankheit mit großer Indikation und rasch zusammenkommenden Datenmengen. „Für über 95 Prozent aller seltenen Erkrankungen gibt es bisher keine spezifische Therapie. Aufgrund einer entsprechenden Behandlung bietet sich den Patientinnen und Patienten die Möglichkeit zur Selbstversorgung und Selbstständigkeit. All das sind, genauso wie die Absolvierung einer Ausbildung und später die Teilnahme am Arbeitsleben, enorm wichtige sozioökonomische Faktoren“, so Herzog.
Leistbare Rare Disease
Um ein halbwegs normales Leben zu führen, brauche es weitere Rahmenbedingungen. „Seit Jahren sind die Gesamtausgaben für Arzneimittel in Österreich stabil und liegen bei 12 bis 13 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben. Orphan Drugs machen hier nur einen geringen Anteil der gesamten Arzneimittelausgaben aus“, so Herzog, der aufgrund des Datenmangels in Österreich Zahlen aus dem Jahr 2017 in Deutschland heranzieht. Hier betrugen die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Kassen für seltene Erkrankungen 3,7 Prozent. „Die Bewertung von Arzneimitteln existiert erst seit gut 20 Jahren. Medikamente, die zuvor auf den Erstattungskatalog gerutscht sind, sollte man erneut evaluieren. Denn der Kauf eines Schleimlösers, von dem man nicht weiß, ob er etwas bringt, ist jedem finanziell zumutbar, eine Gentherapie kann sich wohl niemand leisten“, so Thomas Czypionka, Head of Health Economics and Health Policy am Institut für Höhere Studien Wien (IHS). Gleiches führt er für Protonenpumpenhemmer als Magenschutz an, der primär bei Einnahme von Entzündungshemmern eingesetzt werden sollte, um zu verdeutlichen, dass man mit den vorhandenen Ausgaben an der einen oder anderen Stelle noch schrauben kann. Laut Czypionka liege die Entscheidung bei der Gesellschaft, sprich den öffentlichen Geldern, die verteilt werden.
Lokale Versorgung mit Medikamenten
Neben der Verteilung der Gelder stellen auch Verzögerungen in der Verabreichung der Medikamente Hürden dar. „Beispielsweise entscheiden die einzelnen Bundesländer, welches Spital die entsprechende Versorgung übernimmt. Betreffend der Erstattungen wäre eine eigene Kommission ratsam, die gemeinsam und nicht mehr lokal über die Verabreichung diskutiert. Die Bundesländer sind sich diesbezüglich noch uneins“, so Czypionka. Herzog fasst diesen Aspekt ähnlich zusammen: „Dazu zählen z.B. unterschiedliche regulatorische Anforderungen, Unterschiede in der medizinischen Praxis und die Geschwindigkeit der Preis- und Erstattungsverhandlungen.“ Als Lösung sieht er die Einrichtung eines „High-Level-Forums“, das alle Interessensgruppen an einen Tisch bringt, um zu einem gemeinsamen Verständnis der Ursachen für Verzögerungen und Ungleichheiten beim Zugang zu Arzneimitteln zu gelangen. Zudem fordert er einen zentralen Finanzierungstopf für den langfristigen und einheitlichen Zugang zu neuartigen Gesundheitslösungen.
Auch in der EU-Verordnung von 2000 wurden von der Europäischen Kommission Schwachstellen bemängelt, so dass sich diese derzeit in der Evaluierung befindet und im Frühjahr 2023 eine überarbeitete Version zu erwarten ist. Schwarzer-Daum hofft auf mehr nationale Forschung im Bereich der klinischen Studien, die durch weitere finanzielle Anreize und bessere Arbeitsbedingungen möglich werden könnten. „Denn noch immer werden in den USA doppelt so viele Forschungsanträge im Bereich seltener Erkrankungen gestellt wie in Europa“, so Herzog.
Therapeutische Spezialisierung als allumfassende Chance verstehen
Generell zeigt sich in der Therapie vermehrt der Ansatz einer individuellen Behandlung. „Krankheiten sind in der heutigen Zeit keine allgemeinen Diagnosen mehr, sondern individuelle Fälle und spezielle Krankengeschichten. In Zukunft geht es daher um das Zusammenspiel von modernsten Diagnoselösungen und präzisen Therapien“, sagt Herzog. Enzymdatenbanken beispielsweise ermöglichen es sehr rasch auf Strukturen und Wirkmechanismen von Molekülen zurückzugreifen, die für die eigene Forschung interessant sein könnten und auch Studiendesigns wiederholen sich, die für die eigene Wirkstoffgruppe adaptiert werden könnten. Kaan Boztug, Direktor des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Disease (LBI RUD), glaubt nicht, dass für jede seltene Erkrankung ein eigenes Medikament gefunden werden muss. Nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip sollte man schauen, welches Medikament im Sinne des „Drug Repurposing“ für welchen Patienten mit welcher seltenen Erkrankung geeignet sein könnte. „Drug Repurposing“ ist für Boztug positiv besetzt, „da wir nur so glaubhaft darstellen können, für einen guten Teil der seltenen Erkrankungen adäquate Therapien identifizieren zu können.“
Gerade im Bereich der Onkologie habe sich laut Czypionka einiges getan: „Die CAR-T Cell Therapie ist eine sehr aufwendige Therapie. Wenn die Wirkmechanismen aber einmal verstanden und die Medikamente etabliert sind, sinken auch die Preise der Produkte wieder.“ Beispielsweise sind Patientinnen und Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie (ALL) mittels CAR-T Cell Therapie heute tumorfrei. Dabei werden Abwehrzellen aus dem Blut entnommen und mit einem gentechnisch erzeugten Erkennermolekül für Krebszellen ausgestattet. Die veränderten T-Zellen erkennen und zerstören durch diese Manipulation die Krebszellen. Nicht umsonst ging der Nobelpreis für Medizin 2018 an die Errungenschaft, die das körpereigene Immunsystem dazu bringt, Tumorzellen erneut zu vernichten.
Von einer seltenen zu einer herkömmlichen Erkrankung
Zwar handelt es sich bei ALL nicht um eine Rare Disease, aber das Erkennen von Wirkmechanismen, dass auf andere Bereiche angewandt werden kann, erscheint als zukunftsweisend. Das Nierenzellkarzinom wiederum galt in der EU lange Zeit als Rare Disease. Aufgrund der neuen Orphan Drugs konnte die Überlebenszeit beim metastasierten Nierenzellkarzinom verdoppelt werden, sodass aktuell mehr Menschen mit dieser Erkrankung leben. Durch das Überschreiten der „5 pro 10.000 Personen“- Grenze fällt diese Krebsform nicht mehr unter Rare Disease. Eine Erfolgsgeschichte, die Schwarzer-Daum sehr gerne und regelmäßig präsentiert. Im Bereich der Ultra Rare Disease gebe es bereits innovative Modelle, die sehr kleine Kohorten anderweitig abdecken als klassische klinische Studien mit ausreichenden Fallzahlen. „Es gibt mittlerweile elegante Verfahren, durch die man auch mit sehr, sehr seltenen Fällen sinnvolle Studien erstellen kann“, erläutert Boztug: „Da kommt es zu einem Umdenken in der Medizin. Kleine Patientengruppen können wir somit immer besser definieren.“
„Es kommen ständig neue Therapien hinzu, die ursächlich behandelt werden können und nicht ausschließlich lebensverlängernd sind. 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt. Forscherische Vorleistungen in diesem Bereich werden in Zukunft eine leichtere, schnellere und leistbarere Diagnostik ermöglichen können“, so Czypionka. Denn in der Tat sind genetisch bedingte Erkrankungen, Störungen des Blutsystems oder abnormales Zellwachstum Forschungsbereiche, die unter die Top Drei fallen, wenn es darum geht, die Bezeichnung Orphan Drug im Zulassungsverfahren der EU zu erhalten. Sie liegen im Bereich von 20 bis 50 unterschiedlichen Zulassungen. Infektionserkrankungen sind mit elf Zulassungen vertreten, das Blutsystem und abnormales Zellwachstum mit rund 20 und genetisch bedingte Erkrankungen mit 47.