„Trigger-Themen ja, generelle Spaltung nein“
Unterschiedliche Plattformen, Themen und Nutzungsarten bestimmen den Social-Media-Alltag und wirken auf die Nutzerinnen und Nutzer ein. Das hat deutlich negative Effekte auf den Zusammenhalt, wird oft postuliert. „Von einer generellen Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft zu sprechen, gibt die sozialwissenschaftliche Empirie aber nicht her“, erklärt Matthias Karmasin, Kommunikationswissenschafter an der Universität Klagenfurt.

Sehr wohl gebe es Trigger-Themen, die angeheizt von einer kleinen, aber lauten Minderheit Auseinandersetzungen auslösen, die auf Basis von gefühlten Fakten, Emotionen, Propaganda oder ausländischer Einmischung geführt werden. „Und die Liste der Trigger-Punkte, von Klimakrise, Mobilitätswende, Impfen, Migration bis zur Gesundheitsversorgung wird nicht gerade kürzer. Also Trigger-Themen ja, generelle Polarisierung nein“, so der Experte im Gespräch mit APA-Science. Hier würden politische Bewegungen, die von Empörungsbewirtschaftung leben, ebenso wie Propaganda durch Botnetzwerke andocken.
Angetrieben wird das durch das Geschäftsmodell der sogenannten Intermediäre, zu denen auch die sozialen Medien gehören. An den daraus entstehenden Debatten beteiligen sich aber nur wenige Menschen aktiv, „das zeigen alle empirischen Studien“. Durch deren Lautstärke könnte man aber den Eindruck gewinnen, dass das die vorherrschende Meinung sei. „Das ist nicht der Fall. Auch aus dieser Beobachtung heraus ist eine generelle Polarisierung nicht feststellbar“, konstatierte Karmasin. Was man aber sehr genau im Blick haben müsse, seien die Vielzahl an Bot-Netzwerken und künstlich angeheizte Diskussionen. In der Forschung sei oft erst im Nachhinein feststellbar, dass die Debatte de facto gar nicht von echten Menschen so lebhaft geführt wurde, sondern vor allem Bots beteiligt waren.
Unterschiede nach Region, Plattform und Inhalten
Selbstverständlich hätten unterschiedliche Plattformen in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Wirkungen. In vielen Ländern Afrikas oder Asiens würden videobasierte Plattformen unter anderem aufgrund der geringeren Alphabetisierungsquote der Bevölkerung eine größere Rolle spielen als textbasierte. Aber auch innerhalb Europas differiere das Medienkonsumverhalten stark. „Wir reden in der Kommunikationswissenschaft von Medienmenüs. Dass jemand exklusiv eine einzige Plattform und eine einzige Informationsquelle benutzt, ist eher selten. Es geht immer um ein bestimmtes „Medienmenü“, das man sich konkret anschauen muss.“

Mediennutzung
Bei den 18- bis 24-Jährigen sind soziale Medien inzwischen die primäre Nachrichtenquelle und das mobile Endgerät der primäre Zugangspunkt zu Nachrichten. Tageszeitungen, Fernsehnachrichten, die sogenannten traditionellen Legacy-Media, spielen vor allem für ältere Publikumssegmente, die auch häufig Facebook nutzen, eine Rolle. TikTok, Instagram und Co. sind eher in jüngeren Alterssegmenten dominant, während YouTube in Österreich über alle Altersschichten hinweg punkten kann. Dass die „Digital Natives“ nicht zwangsläufig eine hohe digitale Medienkompetenz aufweisen, zeigt der Gastbeitrag „News will find me“ von Johanna Grüblbauer vom Department Medien und Digitale Technologien der FH St. Pölten.
Manche Plattformen würden eher dazu (ver)führen, dass man Journalismus und professionell erstellte Inhalte mit persuasiver Kommunikation verwechselt. Politische Kommunikation und PR seien durchaus legitim, „aber das ist kein schlechter Journalismus, das ist gar kein Journalismus“, stellt der Kommunikationswissenschafter klar. Dazu kämen Medien, die selbstdeklarativ journalistisch arbeiten, aber nach allen relevanten Kriterien keine sind. Es sei auch die Strategie zu beobachten, wechselseitig auf die Inhalte beziehungsweise auf ein Format zu verweisen, wo diese Vermischung leichter herstellbar ist – etwa von X oder Bluesky auf TikTok. Vor allem bei nicht so medienkompetenten Personen bestehe hier eine „Verwechslungsgefahr“.
Auch traditionelle Medien würden dazu beitragen, wenn sie auf diesen sozialen Medien aktiv sind: „Die Leute schauen die ZIB 100 auf TikTok und gleich danach kommt ein Video zur homöopathischen Empfängnisverhütung.“ Es sei eine „historische Fehleinschätzung“ gewesen so zu tun, als wären diese Plattformen Medien wie Radio, Fernsehen oder Zeitung. „Das sind Intermediäre. Der Begriff soziale Medien führt furchtbar in die Irre“, so Karmasin, der auch das Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) leitet.
Ihr Geschäftsmodell beruhe auf dem Verkauf personalisierter Werbung und von Daten, wobei die Verweildauer auf der Plattform die Profitabilität erhöhe. Entsprechend seien auch die Algorithmen, durch die die Kommunikation gesteuert werde, programmiert und nicht etwa darauf, Erkenntnis, Verständnis und Faktentreue zu befördern. Das biete den Plattformbetreibern, aber auch Bot- und Trollnetzwerken sowie anderen Akteuren die Möglichkeit zur Manipulation.
Empfehlungen an die Politik
Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat unter die Lupe genommen, inwieweit soziale Medien eine Gefahr für die liberale Demokratie darstellen, und daraus unter anderem sechs Empfehlungen an die Politik abgeleitet. So sollten sich Nationalratsabgeordnete einen „Code of Conduct“ für das Verhalten in sozialen Medien auferlegen, was bei Missachtung auch einen „digitalen Ordnungsruf“ nach sich ziehen könnte. „Eine Vorbildfunktion in der politischen Kommunikation einzunehmen, wenn diese durch Steuergeld bezahlt wird, hätte eine hohe symbolische Wirkung“, erklärte Karmasin, Sprecher der Arbeitsgruppe, der u.a. auch Barbara Prainsack, Sonja Puntscher-Riekmann und ÖAW-Präsident Heinz Faßmann angehörten, anlässlich der Präsentation im vergangenen Jahr.

Langfristig betrachtet sei die Stärkung von Medienkompetenz und demokratischer Bildung der Bevölkerung sehr wichtig. Eine weitere Empfehlung betrifft eine Reform der Medienförderung und der Inseratenvergabe, die laut Karmasin aus pragmatisch-ökonomischer Sicht die größte Auswirkung auf die Medienlandschaft hätte. Dadurch könnten Qualitätsmedien wirkungsvoll als „Gatekeeper“ fungieren. Angeregt wird auch ein Monitoring von Inhalten, Nutzungsverhalten und Reichweiten der politischen Kommunikation, um für Transparenz zu sorgen. Zudem soll parallel zum Österreichischen Werberat ein Ethikrat für politische Werbung und PR in sozialen Medien dazu beitragen, dass grundlegende Standards auch in der digitalen Welt eingehalten werden. Die letzte Empfehlung umfasst die Stärkung der demokratischen Kontrolle über digitale Plattformen, um etwa Quasi-Monopole zu verhindern.
Nachrichtenvermeidung und Tunnelblick
Zunehmend in den Blick der Forschung gerate das Nutzungsverhalten. Dies sehe im Bereich der Unterhaltung deutlich anders aus als bei Nachrichten und Berichten. Hier gebe es zwei Entwicklungen: Einerseits News Avoidance, bei der Menschen Nachrichtenvermeidung betreiben, weil sie beispielsweise die Polykrisen der Gegenwart ausblenden möchten. Das führe in liberalen Demokratien wiederum zu einer veränderten Einschätzung, was gefühlte Fakten, Emotionalisierung und Populismus betrifft, „oder auch dazu, dass man einen partikulären Ausschnitt für das ganze Bild hält“.
Die simplen Reizreaktionsmodelle hätten jüngerer Forschung zufolge unterdessen ausgedient, also dass man mit einem Medieninhalt konfrontiert wird und dann mit einer Änderung seines Kaufverhaltens oder seiner politischen Einstellung reagiert. Vielmehr gehe man inzwischen von rekursiven Verstärkungseffekten aus. „Das bedeutet: Wer eine bestimmte Präferenz hat, wählt bestimmte Medien und Diskussionspunkte. Dort wird man entweder bestärkt, was die eigene Überzeugung festigt, oder zum Widerspruch animiert“, so Karmasin. Letzteres löse eine kognitive Dissonanz aus, die in vielen Fällen dazu führt, dass Informationen entweder komplett ausgeblendet – Stichwort News Avoidance, oder gezielt nur mehr Informationen, Plattformen und Kanäle aufgesucht werden, die die eigene Haltung bestärken.

Im Kaninchenbau bei einzelnen Themen
Aber sogar Menschen, die News-Avoidance betreiben und politische Nachrichten ausblenden, seien zum Beispiel über Sport – etwa Details zu den Formel-1-Teams – bestens informiert, was auch eine gewisse Hoffnungsperspektive aufweise. „Die können in Bezug auf Foodblogging, Bücher, Filme unglaublich aktiv und dort auch ganz pluralistisch aufgestellt sein, aber in der Frage, ob es einen menschengemachten Klimawandel gibt, wirklich in einem Kaninchenbau sitzen“, erklärt der Experte. Der Teil jener, die kaum mehr in einen vernunftgeleiteten Diskurs zurückgeholt werden könnten, betrage je nach Studie zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung.
Hier stelle sich die Frage, auf welchem Weg man diese Menschen durch medial vermittelte Kommunikation noch erreichen kann. Es gebe immer noch die Möglichkeit des persönlichen Gesprächs und der direkten Interaktion – Stichwort Stammtisch. Sinnvoll sei vermutlich, eher dort anzusetzen, wo Menschen skeptisch, aber interessiert sind, als dort, wo es sehr harte und massive Vorbehalte und Widerstände gebe.
Auch der Aspekt der „Digital Addiction“ dürfe nicht übersehen werden. Diese Forschungsrichtung stelle suchtähnliches Verhalten beim Konsum sozialer Medien fest und unterscheide sich stark von der themenzentrierten Medienwirkungsforschung der jüngeren Zeit. Hier gehe es nicht um das Thema, sondern um die Anregung, um den Kick, um den Dopamin-Adrenalin-Ausstoß, den man in dieser Interaktion gewinnt. „Anders formuliert, wenn jemand ein starker Raucher ist, wenn man lange keine Zigarette gehabt hat, irgendwann ist einem dann die Marke egal.“
Beleidigungen auch unter Klarnamen
Was die inhaltliche Argumentation betreffe, unterscheide sich laut kommunikationswissenschaftlicher Empirie der analoge Stammtisch kaum von den diversen digitalen Plattformen. Dass in den Online-Kanälen vermeintlich anonym radikaler oder hasserfüllter argumentiert wird, lasse sich ebenfalls nicht flächendeckend nachweisen. „Oft werden extreme Positionen und Beleidigungen auch unter Klarnamen gepostet und ähnlich wie am Stammtisch nachher etwa mit Trunkenheit entschuldigt“, sagt Karmasin. Der große Unterschied liege auch hier in der Verstärkung von emotionalisierenden und polarisierenden Nachrichten durch die Algorithmen der Intermediäre. Und die treibt die Empörungsmaschine weiter an.