Virtuelle Züge brausen über steirische Gleise
Die Südbahnstrecke zwischen Graz und Bruck an der Mur hat auf 39 Gleiskilometern alles, was Modellbaufans ein Lächeln und Ingenieurinnen bzw. Ingenieuren Denkfalten ins Gesicht zaubert: Die Züge fahren enge Kurven, durch Tunnels, über Brücken und Weichen, die Forscherinnen und Forscher im Projekt Rail4Future detailgetreu digitalisiert haben. In Simulationen kann man nun feststellen, wann sie gewartet oder erneuert werden müssen, und wie sie mit erhöhten Frequenzen und Belastungen zurechtkommen.

Um mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu bekommen, will man künftig den Zugverkehr verdichten. Zudem sollen Garnituren mit höheren Achslasten über die Gleise rollen, sagt Manfred Grafinger vom Forschungsbereich Maschinenbauinformatik und Virtuelle Produktentwicklung an der Technischen Universität (TU) Wien: „Wir haben eine Simulationsplattform für diesen Südbahn-Abschnitt aufgebaut, damit man rasch analysieren kann, was das für die Infrastruktur bedeutet, sowie für ihre Lebensdauer und die Wartungsintervalle.“ Im ersten Schritt konnte dies aufgrund des Aufwands nicht österreichweit gemacht werden, „aber es passierte beispielhaft an dieser anspruchsvollen Strecke als Demonstrator“, erklärt er gegenüber APA-Science.
Kräfte zwischen Rad und Schiene simuliert
Grafinger hat mit Kollegen verschiedene, teils schon von Projektpartnern wie den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), Siemens Mobility und Virtual Vehicle Research vorhandene Simulationsabläufe aufeinander abgestimmt und miteinander interagieren lassen – etwa verschiedene virtuelle Zugformationen und wie die Gleistrasse bei einer Überfahrt reagiert. Dafür wurden unterschiedlichste Daten einbezogen, etwa die Steifigkeit der Federung und der Gleisbettung, Schienenunebenheiten und wo Abweichungen vom idealen Fahrbahnprofil vorhanden sind.
Solche Daten generiert ein Messwagen der ÖBB etwa zwei Mal im Jahr. „Wenn man den Zug anschließend virtuell darüberfahren lässt, liefert die Simulation Daten, welche Kräfte etwa zwischen dem Rad und der Schiene wirken und wie sehr das den Schienenoberbau und das Fahrzeug belastet“, berichtet er: „Die Ergebnisse werden anschließend auch visuell durch Unterstützung des Projektpartners VRVis GmbH als dreidimensionales oder Punktwolken-Modell dargestellt.“
Für solche Simulationen bräuchten Computersysteme herkömmlicher Art rund eine Stunde je zehn Kilometer Fahrstrecke, erklärt Grafinger: „Wir wollten deshalb die Rechenzeit verkürzen. Ziel der beschleunigten Modellrechnungen war in diesem Projekt, eine schnelle Vorhersage für große Streckenabschnitte bei Änderung der Betriebsbedingungen, wie der Zugfolgedichte, treffen zu können.“ In Zukunft sollten die Modelle das Gesamtnetz der ÖBB abdecken. „Dafür haben wir Künstliche Intelligenz eingesetzt“, so der Experte. Ein neuronales Netz wurde mit der Streckensimulation trainiert. Nach zwei bis drei Tagen konnte es die zehn Kilometer in nur sechzehn Sekunden mit hoher Genauigkeit (von plus/minus fünf Prozent maximaler Abweichung) simulieren, berichtet er. Freilich muss man das neuronale Netz mit allen unterschiedlichen Fahrzeug-Varianten einzeln trainieren.

Brücken und Tunnel
Manchmal braucht es allerdings noch viel Vorarbeit, bis die Modelle und Simulationen in Betrieb genommen werden können. „Die Brücken sind teils mehr als hundert Jahre alt“, erläutert Grafinger. Solche Bauwerke müssen zunächst aufwendig digitalisiert werden. „Das ist langwierige Knochenarbeit“, betont er. Diese zahle sich jedoch aus, denn anschließend könne man die am stärksten belasteten Teile identifizieren und zum Beispiel gefährdete Schweißnähte an Stahlträgern ausmachen. Auch hier müsse man aber für jedes Bauwerk, also etwa für jede Brücke und jeden Tunnel, explizit ein jeweiliges Modell neu erstellen und dieses in die Berechnungsplattform einfügen.
„Bei den Tunneln gibt es jede Menge an Messstellen, die Versetzungen an den Tunnelschalen erkennen“, sagt Grafinger. Diese entstehen durch den Druck des oftmals großen Bergs darüber sowie Verschiebungen in den Gebirgsstöcken. Die Auswirkungen des Gebirgsdrucks und der möglichen Verschiebungen auf die Betonbewehrungen werden berechnet. Daraufhin kann man in den Modellen simulieren, wann ein Tunnel saniert werden muss und ob etwa zusätzliche Bewehrungen nötig sind, damit die Tunnelschale aus Beton den Kräften des Gebirgszuges ausreichend trotzt.
Voraussagen zu Instandhaltungsarbeiten
„Misst man die Veränderungen des Zustandes der Gleise und der Weichen über die Zeit, kann man mit den Modellen anhand dieser Daten prognostizieren, wann genau jener Zustand eintritt, den wir eigentlich mit einer Instandhaltungsmaßnahme gerne verbessern würden“, erklärt Stefan Marschnig vom Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrswirtschaft der Technischen Universität (TU) Graz. Nachsatz: „Das ist eine ziemlich herausfordernde Aufgabe, wenn ich das so sagen darf, an der wir gemeinsam mit der ÖBB schon seit mehreren Jahren arbeiten.“
Nach Bewältigung dieser Aufgabe sollen Algorithmen den Anwendern, also etwa Eisenbahningenieurinnen und -ingenieuren im Büro, im virtuellen Abbild des Eisenbahnnetzes anzeigen, wie es um das Schienennetz und seine Bauwerke bestellt ist. Das kann zum Beispiel im einfachen Stil von Ampelfarben erfolgen, also dass der Zustand einer grün eingefärbten Komponente gut ist. „Wenn man den Zeitschieber vorwärts stellt, kann man beobachten, wann sie schließlich gelb wird und Wartungsarbeiten anstehen, damit sich der Zustand hoffentlich niemals rot einfärbt“, sagt der Experte.
Die Weiche: Ein ganz besonderer Gleisteil
Der am schwierigsten zu modellierende Teil der Gleise ist die Weiche, erklärt Marschnig. Die Daten, die ein Gleismesswagen liefert, sind dafür nicht ausreichend, denn dieser misst in regelmäßigen Abständen und nicht unbedingt an den neuralgischen Punkten solch eines variablen Schienenelements. Deswegen müssen in den Weichen selbst Sensoren platziert werden. Diese würden neben der Einsenkung der Schienen unter der Belastung des darüberfahrenden Zuges auch die Bewegung der speziellen Bauteile einer Weiche erfassen. Das sind etwa die schwenkbaren „Zungenschienen“, die den Zug auf das eine oder andere Gleis lenken, oder das „Herzstück“, wo sich die Gleise gabeln. Dazu wird genau an den kritischen Punkten der Weiche gemessen. „Ab gewissen Abweichungen vom Optimum wird die Fahrt nämlich zu unruhig“, so der Experte: „Im schlimmsten Fall könnte sogar eine Entgleisung drohen.“

In Österreich gibt es bei 10.000 Gleiskilometern rund 14.000 Weichen, berichtet er: „Das ist dem Mischverkehrsnetz hierzulande geschuldet.“ Also, weil Personen- und Güterzüge sich regelmäßig darauf abwechseln. Mittlerweile habe man bereits etwa 200 Weichen detailliert auf Basis der Messdaten untersucht. In Zukunft wolle man von jeder einzelnen Weiche in Österreich einen „digitalen Zwilling“ generieren. Auch bei diesen Bauteilen sollen schlussendlich Farbcodes anzeigen, wann die nächste Wartung ansteht.
Simulation am digitalen Zwilling erhöht Arbeitssicherheit
„Man muss dadurch nicht mehr so oft an den Gleisen oder der Weiche stehen, um deren Zustand zu erfassen“, sagt Marschnig: „Das erhöht die Arbeitssicherheit, denn das Schienenumfeld ist immer noch ein gefährliches Terrain.“ Trotz vieler Vorsichtsmaßnahmen würden dort immer noch Unfälle passieren. Zweitens gäbe es auch bei der Bahn wie in fast allen Sparten einen Mangel an Facharbeiterinnen und Facharbeitern. „Hier hilft es auch sehr, wenn man sich das Ganze remote (aus der Ferne, Anm.) ansehen und die Zustände der Teile beurteilen kann, um dann vor Ort entsprechende Handlungen zu setzen“, erklärt er.
„Wir haben nun erstmals eine Streckensimulation, die Interaktionen der Schienenfahrzeuge mit der Trasse, einzelnen Brücken, Tunnels und Weichen im Modell abbildet“, fasst Grafinger zusammen. Auf der Simulationsplattform könne man verschiedenste Zugkombinationen virtuell auf die Strecke schicken, um die Belastungen der nächsten Monate und Jahre zu simulieren. Dadurch wird die Abnutzung der Bahn-Infrastrukturen sichtbar, und man kann Wartungsarbeiten besser im Voraus planen. Außerdem wird damit berechenbar, um wie viel sich die Wartungsintervalle verkürzen, wenn man größere Achslasten und engere Takte auf den Gleisen zulässt. Auch die Notwendigkeit von Generalsanierungen und Neubauten würde anhand der Simulationen erkennbar.
„Durch den zunehmenden Zugverkehr steigt aber nicht nur der Anlagenverschleiß“, erklärt Marschnig: „Das fast größere Problem ist, dass die Zeitfenster damit auch immer kleiner werden, in denen man Instandhaltungsarbeiten überhaupt durchführen kann.“ Mithilfe der KI-gestützten „vorausschauenden Wartung“ (predictive maintenance) wären die Tätigkeiten vor Ort früher und besser planbar. Damit könnte man die Arbeiten verträglicher im laufenden Betrieb durchführen, damit die Züge nicht so lang deswegen stillstehen und etwa ein Schienenersatzverkehr eingerichtet werden muss.
Schließlich könne man die virtuelle Abbildung des Eisenbahninfrastruktursystems auch dafür nutzen, um Neues zu testen. „Wir wollen im Zugnetz ja Anlagen bauen, die vier Jahrzehnte oder mehr halten“, sagt Marschnig: „Dafür braucht man normalerweise Tests, die quasi ewig dauern.“ Mithilfe von Simulationen, die in den kommenden Jahren vermehrt zur Verfügung stehen werden, könne man hierbei wohl vor allem die Anfangsphasen verkürzen.
Service: Rail4Future