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Mehr zum Thema / Lena Yadlapalli / Freitag 31.01.25

Vom Ich und dem Dromedar

Soziologin Anna Durnova stellt in ihrer Forschung zum Umgang mit Krisen und Reizthemen, z.B. Pandemie oder Abtreibungsrecht, das Individuum und seine Emotionen in den Mittelpunkt. Soziologe Alexander Bogner, Koordinator des von der Bundesregierung beauftragten Projektes zur Corona-Aufbereitung, ordnet Beobachtungen vor dem gesamtgesellschaftlichen Kontext ein. Im Umgang mit einer stärker zersplitterten Meinungswelt sagen beide: Wir müssen Wege finden, auf die Geschichten der Einzelnen zu hören.
APA/dpa/Lino Mirgeler Der Befund einer Polarisierung in Österreich bezieht sich vor allem auf Themen

“Krisen können fragmentierte, pluralistische Gesellschaften zu Gefahrengemeinschaften zusammenschweißen. Krisen können aber auch Konflikte so extrem anheizen, dass eine tragfähige Vertrauens- und Verständigungsgrundlage erodiert.“ Das habe die Pandemie gezeigt, heißt es im Vorwort zu einer Publikation über die Lehren aus der Corona-Pandemie. Dieses stammt von Alexander Bogner, Koordinator des an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) angesiedelten Projektes zur Aufbereitung der größten Gesundheitskrise der letzten Jahre.  

Der „Aufbereitungsprozess“ scheint vollzogen, doch ginge es nur darum. Klimaschutz, politischer Rechtsruck, geopolitische Verunsicherung und viele andere Reizthemen lassen unverändert fragen: Was tun mit der scheinbar zunehmenden Erosion der Verständigungsgrundlage? Oder besser: Wie polarisiert ist die Gesellschaft? 

Daniel Hinterramskogler/ÖAW
Soziologe Alexander Bogner von der Akademie der Wissenschaften (Credit: Daniel Hinterramskogler/ÖAW)
Polarisierung?!

 

„Österreich ist immer noch eine offene und pluralistische Gesellschaft“, beruhigt der ÖAW-Soziologe gegenüber APA-Science. Hierzulande handle es sich um eine wahrzunehmende „themenspezifische Polarisierung“ – und keine „in struktureller Hinsicht“: „Man schickt die eigenen Kinder nicht nur in jene Schulen, wo man die Kinder der anderen Gruppe nicht treffen kann. Oder man folgt auch keinen Heiratsregeln.“ Wäre es anders, spräche man von einer strukturellen Polarisierung, so Bogner.  

 

Der deutsche Soziologe Steffen Mau ist mit seinen tierischen Metaphern für den Zustand der Gesellschaft auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt: In einer “Kamelgesellschaft” – mit zwei Höckern und einem tiefen Graben dazwischen fehle eben die gesellschaftliche gemäßigte Mitte. Steht das Kamel sinnbildlich für die strukturelle Polarisierung, so offenbarten Maus empirischen Untersuchungen für Deutschland nur das Bild des „Dromedars“ mit einem zentralen, eher breiten Hügel: Ungeachtet der vielen stark debattierten Themen sei man weniger gespalten oder zerrissen als häufig angenommen. So sprach er von der „Dromedar-Gesellschaft“ und damit einer „noch breiten Grundlage für Verständigung“, erläutert Bogner. Auch für Österreich gibt es ähnliche empirische Befunde. 

Hierzulande steht man noch nicht da, wo die USA stehen: Die Demokraten und Republikaner jenseits des Atlantiks, so lauten Modelle, seien so zerstritten, „dass man in der politischen Praxis vernünftige politische Kompromisse hintertreibt, nur um nicht in den Verdacht zu kommen, man würde mit den anderen reden“, sagt Bogner: „Das haben wir hier nicht.“ Auch nicht, trotz erstarkter rechtspopulistischer bis -nationaler Kräfte und ihren polarisierenden Positionen, ob zu Migration, Europa, Klimaschutz etc.  

„Wenn man sagt, es gibt mit der FPÖ aufgrund ihrer Positionen keine Gemeinsamkeiten, ist dies eine alternative politische Positionierung“, meint der Wissenschafter: „Polarisierung wäre gegeben, wenn man eigentlich Gemeinsamkeiten hat, diese aber leugnet, um die Differenz stark machen zu können.“

Von der Polis zu 20 Plätzchen 

Anders als die Soziologen mit Blick für die „Makroebene“ sucht Anna Durnova von der Universität Wien Antworten vor allem mit Blick auf die individuelle bzw. „Mikroebene“. 

In demokratischen Gesellschaften gab es schon immer Meinungsverschiedenheiten. Es waren aber die Orte der Auseinandersetzung im öffentlichen Raum nicht so sichtbar“, sagt die politische Soziologin: „Soziale Medien und Filterblasen begünstigen bei Themen wie Schwangerschaftsabbruch und Feminismus oft die Verbreitung polarisierender Inhalte – von frauenfeindlichen Narrativen bis hin zu Zuspitzungen feministischer Debatten.“ Es stelle sich aber die Frage, „ob diese nicht vorher auch kursiert sind – nur haben wir dies nicht so wahrgenommen“. 

Vor zehn Jahren war es noch gang und gäbe, dass sich alle die ZIB2 angeschaut haben Politische Soziologin Anna Durnova

„Vor zehn Jahren war es noch gang und gäbe, dass sich alle die ZIB2 angeschaut haben – und das war ‚die‘ mediale Öffentlichkeit. Wir haben lange gedacht: Demokratie wird an diesem einen Hauptplatz, in der Polis, diskutiert. Es gibt heute aber zehn oder 20 Plätzchen parallel nebeneinander – alle möglichen Räume, links und rechts, ideologisch sortiert, die von vielen als ‚die‘ zentrale Öffentlichkeit wahrgenommen wird.“ 

Dem deutschen Soziologen Jürgen Habermas folgend könne Dialog demokratiefördernd sein. „Ja, aber …“, sagt Durnova, „wir brauchen heute eine andere Art von Dialog, wenn diese Öffentlichkeit fragmentiert ist. Junge Leute schauen kaum noch fern, sie konsumieren Nachrichten über soziale Medien und personalisiert.“ Was oft als Polarisierung bezeichnet werde, sei eher die Gefahr dieser Fragmentierung der Öffentlichkeit und einer Dekontextualisierung des Gesagten: „In den Blasen oder Echokammern tauscht man sich stark ideologisch aus – man bedient sich einer bestimmten Sprache, die diesem Kollektiv bewusst ist. Wenn das Gesagte aber aus dem Kontext herausgerissen und auf andere Plätze gestellt wird, kann das eigentlich nur noch zu Missverständnissen und einer weiteren Polarisierung führen.“ 

Risiko „Expertokratie“ 

Neben „Polarisierung“ und „Fragmentierung“ vernimmt man bisweilen auch ein weiteres Schlagwort: „Expertokratie“, also die herrschende Deutungshoheit und Entscheidungsgewalt von Expertinnen und Experten. „Das ist ein Thema, das mit der Verschärfung der Klimakrise wieder stärker kommen wird“, meint Soziologe Bogner. In einer Situation, in der die wissenschaftlichen Erkenntnisse eigentlich auf dem Tisch liegen, sich eine restriktive Politik aber dagegen sperrt und ihre eigene Agenda verfolgt, vernehme man oft den Appell: „Follow the science!“, also: „Folge der evidenzbasierten Forschung.“  

„Natürlich soll sich die Politik auf Fakten und nicht auf Unwahrheiten beziehen. Schwierig wird es aber, wenn die Formel “Follow the science!” meint: Jetzt weiß die Wissenschaft Bescheid, und deswegen gibt es keine politischen Handlungsspielräume mehr, da die Daten und Fakten das ganze politische Handlungsprogramm vorgeben. Das ist dann der Übergang in eine Expertokratie“, so Bogner. Diese Macht des Wissens könne letztlich dann sogar demokratiegefährdend sein.

„Politische Konflikte sollten nicht ausschließlich als Wissenskonflikte ausgetragen werden“ Soziologe Alexander Bogner

Wie mit Diskrepanzen umgehen? 

„Politische Konflikte sollten nicht ausschließlich als Wissenskonflikte ausgetragen werden“, so Bogner weiter. Es brauche vielmehr eine „offene Auseinandersetzung über normative Grundfragen: Welche Zukunft wollen wir? Was wollen wir für eine Gesellschaft sein? Was wollen wir für unsere Kinder? Welche Investitionen wollen wir dafür erbringen und von welchen Gewohnheiten nehmen wir Abstand?“ In dem derzeit geführten „Stellvertreterkrieg“ würden hingegen die wissenschaftlichen Daten und Studien im Mittelpunkt stehen und „eben nicht die Werte oder die Zukunftsorientierung, die wir verteidigen wollen“.   

Doch wie umgehen mit den themenspezifischen Kontroversen? Es gehe darum, eine starke moralische Aufladung von Themen tunlichst zu vermeiden“, meint der ÖAW-Soziologe. Kein stilisierter Kampf von „Gut“ gegen „Böse“, wie er sich etwa beim Impfthema in der Pandemie offenbarte: „Es gab damals nur noch die Geimpften und die Ungeimpften. Plötzlich waren wir keine Individuen mehr, sondern Repräsentanten einer als homogen gedachten Gruppe, die mit bestimmten stereotypen Merkmalen versehen worden ist: die Ungeimpften als die Egoisten und Leugner, die Geimpften als die Vernunftfanatiker oder -gläubige.“ Das riss Gräben auf. 

So suchte Bogner im Rahmen der Corona-Aufbereitung auch das direkte Gespräch mit jenen, die eine radikale Wissenschaftsskepsis an den Tag legten: „Im persönlichen Gespräch muss man versuchen, Moralisierung hintanzustellen. Damit erkennt man auch eher, was die Menschen so bewegt.“ Seine Erfahrung daraus: „In den seltensten Fällen geht es um eine grundlegende Feindlichkeit gegenüber der Wissenschaft oder der Moderne, sondern um Persönliches.“  

Anna Durnova, Professorin für Politische Soziologie an der Universität Wien (Credit: Eugenie Sophie)
„Walk-Along-Gespräche“

 

Auch Soziologin Durnova entwickelt derzeit mit Kollegen „neue interaktive Interaktionsformate“: In dem vor einem Jahr gestarteten EU-Horizon-Projekt geht es um Klima, Ungleichheit und demokratisches Handeln. „Wir versuchen dabei, die gesellschaftspolitischen Annahmen und großen Klima-Diskurse möglichst fernzuhalten von den Gesprächen mit den Menschen.“  

 

Es werden etwa Landwirte, als eine Zielgruppe des Projektes, besucht, diese im Rahmen von „Walk-Along-Interviews“ durch ihren Alltag begleitet – und vor allem zugehört. „Sie erzählen viel von Klimawandel, Dürre, aber eben in ihrer eigenen Alltagssprache und -wahrnehmung. Darüber wollen wir ihre Annahmen zum Klimawandel herausfiltern. Damit können wir dann vielleicht besser erklären, warum eine Gruppe, die so stark vom Klimawandel betroffen sein wird, auch so stark auf das Thema polarisiert, und warum einige Betroffene gegen Initiativen wie den Green Deal protestieren.“ 

 

Die Emotionen sind für die Forscherin dabei Ausdruck unserer Gefühle“, aber vor allem auch ein Produkt aus dem „Kontext der polarisierenden Diskussionen rund um gesellschaftliche Entwicklungen. Es sei wichtig zu sehen, welche Gefühlslagen dazu führen, dass sich Leute gegen etwas auflehnen – auch mit jeglicher Ambivalenz, die vielleicht mitschwingt.  

Die Wissenschaft hingegen gelte in der allgemeinen Wahrnehmung als nicht emotional. „Das ist auch nachvollziehbar. Wissenschaft hat ihren methodischen Zugang, ist stringent. Da gibt es keinen Platz für spontane ideologische Färbung.“ Gleichzeitig seien eben Wissenschafterinnen und Wissenschafter auch Menschen und Kinder ihrer Zeit.  

„Der französische Soziologe Emile Durkheim forschte zu Selbstmord in einer Zeit, als Selbstmord noch tief in einen religiösen Diskurs verankert war. Diese Annahmen, die Ideologie, vielleicht auch die damit verbundenen Emotionen trieben ihn dazu.“ Wenn sich also mehr in den Köpfen verankert, dass Wissenschaft und Emotionen keine getrennten, sondern durchaus kommunizierende Gefäße sind, „dann eröffne sich vielleicht auch hier eine ganz neue gesellschaftliche Diskussion über Wissenschaft und ihre Rolle“, so ihre Hoffnung. 

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