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Mehr zum Thema / Stefan Thaler / Donnerstag 10.06.21

Von der Pflicht zur Kür: Der steinige Weg zur digitalen Hochschule

Lehrende schulen, Studierende vorbereiten, Infrastruktur und mediendidaktische Unterlagen bereitstellen: Vieles ist an den Hochschulen in der Corona-Krise gar nicht so schlecht gelaufen. Gleichzeitig treten Problemfelder wie mangelhafte Interaktion und Hybrid-Unterricht umso deutlicher zutage. Nach der „Emergency Education“ sei nun ein Kassasturz dringend erforderlich, um die relevanten Lehren aus dieser Notfallsituation ziehen zu können, fordert Martin Ebner von der TU Graz.
Foto: APA/dpa „Emergency Education“ erfordert Kassasturz

„Der Lernort Hochschule muss nach dieser spontanen Digitalisierungswelle komplett neu gedacht werden“, ist der Leiter der Abteilung Lehr- und Lerntechnologien im Gespräch mit APA-Science überzeugt. Man habe das Beste aus der Krise gemacht, „aber jetzt müssen wir uns den Stärken und Schwächen widmen. Denn was wir machen, ist nicht Fernlehre, sondern ein Notfallprogramm – und da gibt es Abstriche. Zu tun, als ob ohnehin alles gut gelaufen wäre, ist auch falsch“. Zwar hätten sich Lehrende den Umgang mit neuen Technologien in aller Kürze angeeignet und auch im Hinblick auf Didaktik und Infrastruktur habe es deutliche und erfreuliche Fortschritte gegeben, „aber es wäre vermessen zu behaupten, dass wir bereits eine reine Distanz-Hochschule sind und dass das unsere gelebte Kultur ist“.

"Ich habe noch nie so viel Liebe zur Lehre erlebt wie in diesen paar Monaten." Martin Ebner, TU Graz

„Der Lernort Hochschule muss nach dieser spontanen Digitalisierungswelle komplett neu gedacht werden“, ist der Leiter der Abteilung Lehr- und Lerntechnologien im Gespräch mit APA-Science überzeugt. Man habe das Beste aus der Krise gemacht, „aber jetzt müssen wir uns den Stärken und Schwächen widmen. Denn was wir machen, ist nicht Fernlehre, sondern ein Notfallprogramm – und da gibt es Abstriche. Zu tun, als ob ohnehin alles gut gelaufen wäre, ist auch falsch“. Zwar hätten sich Lehrende den Umgang mit neuen Technologien in aller Kürze angeeignet und auch im Hinblick auf Didaktik und Infrastruktur habe es deutliche und erfreuliche Fortschritte gegeben, „aber es wäre vermessen zu behaupten, dass wir bereits eine reine Distanz-Hochschule sind und dass das unsere gelebte Kultur ist“.

Die anfängliche Situation sei vergleichbar gewesen mit der jahrelangen Vorbereitung auf einen Sturm, der sich letztendlich als Tsunami entpuppt hat, schilderte Ebner den Sprung ins kalte Wasser schon in einem Gastbeitrag für APA-Science. Für diese Startphase zieht der Experte ein positives Resümee: „Die Stimmung war, das anzugehen und proaktiv zu arbeiten. Ich habe noch nie so viel Liebe zur Lehre erlebt wie in diesen paar Monaten. Auch weil die Leute gesagt haben, alles egal, wir müssen das gut machen.“ Die Studierenden seien sehr dankbar für dieses Engagement gewesen. Inzwischen habe sich die Situation einigermaßen normalisiert, was auch dazu führe, dass wieder stärker hinterfragt werde. „Jetzt schaut man mehr hin, wo etwas weitergehen müsste, und da zeigen sich die Problemfelder sehr deutlich“, so der Medieninformatiker.

Lehrveranstaltungen komplett neu denken

Ganz oben auf der Liste der Online-Nachteile stehen laut Experten mangelnde Interaktion, Diskussion und Reflexion. „Der Bezug zu den Studierenden ist stark eingeschränkt. Man kann sich zwar beispielsweise mit Breakout-Räumen helfen, aber eigentlich müssten die Lehrveranstaltungen komplett neu gedacht werden“, meint Ebner, der auch Präsident des Forum Neue Medien in der Lehre Austria ist. Der Fokus dürfe nicht auf dem ausschließlichen Transfer liegen, also in die Videokonferenzanlage zu sprechen, sondern auch dort den Diskurs zu suchen oder sie an die digitalen Gegebenheiten didaktisch anzupassen. Diese neue Anforderung müsse rasch angegangen werden. „In der Krise hatte keiner Zeit über seine Lehrveranstaltungen mediendiaktisch groß nachzudenken. Man war froh, wenn am nächsten Tag die Online-Verbindung wieder halbwegs funktioniert“, sagte der Fachmann.

Jetzt brauche es Schulungen im Hinblick auf eine qualitativ hochwertige didaktische Online-Lehre. „Die Studierenden schauen sich das aktuell wie am Fernseher an und machen dann die Prüfung. Man kann nicht die ganze Zeit in ein Mikrofon reden und denken, dass das am anderen Ende schon ankommen wird. Man braucht Response auch für die Lehrenden. Wir haben so viele Handouts wie noch nie produziert und Austauschgruppen formiert. Das wurde auch dankbar angenommen, aber hier gibt es einen riesigen Optimierungsbedarf. Das hängt auch an der Technik“, so Ebner. Bei der Basis-Infrastruktur sieht er inzwischen kaum mehr Probleme. Durch entsprechende Vorarbeiten, auch in diversen Digitalisierungsprojekten, sei man nicht komplett überrascht worden, wenngleich die Hochschulen nicht darauf ausgelegt waren, einen Schalter umzulegen und zu sagen: „Es geht!“

Technik kann auch zur Exklusion führen

Nun müsse daran gearbeitet werden, die Online-Lehre in Hinblick auf Interaktion und Bezug zu den Studierenden besser zu gestalten. „Lernen ist ja etwas Soziales und dieser Teil ist uns komplett weggebrochen. Das ist das eigentliche Problem. Jemanden online aus der Reserve zu locken, ist auch schwer zu schulen. Wir spüren jetzt, wo die Grenzen sind“, erklärte Ebner. Manches würde sich auf Distanz auch gar nicht abbilden lassen, etwa Labore oder Exkursionen. Bei allen Vorteilen durch Technik dürfe nicht vergessen werden, dass sie auch zur Exklusion von Studierenden führen kann. Keine gute Internetverbindung, kein ruhiger Raum, psychische Probleme – es sei derzeit schwer abschätzbar, wie viele nicht mehr teilnehmen können.

Vor allem bei den finanziell schwächeren Gruppen gebe es sehr große Unsicherheiten. „Viele wissen nicht, ob sie ein Studentenheim brauchen oder Miete zahlen müssen. Manche sind auch gar nicht mehr vor Ort. Da entstehen ganz neue Probleme, die vorher nicht bedacht wurden“, verwies der Experte beispielsweise auf Teilöffnungen: „Aus Sicht der Studierenden bedeutet das, dass man zwei Stunden an der Uni ist und eine halbe Stunde später an einer Online-Lehrveranstaltung teilnehmen muss. Wir wissen noch nicht, wie wir diese Logistik wirklich gut managen können. Es ist ja nicht so, dass die Hochschulen darauf ausgelegt sind, dass man sich sofort wo hinsetzen und losarbeiten kann. Die Studierenden können aber auch nicht so schnell ins Zuhause wechseln.“

Nie mehr überfüllte Hörsäle

Die Hochschule als Lernort müsste komplett neu gedacht werden: „Wir wissen heute ja noch gar nicht, ob wir je wieder einen überfüllten Hörsaal erleben werden, wenn man an die eingeschränkten Belegungsdichten denkt. Große Lehrveranstaltungen müssen also vielleicht auch zukünftig vermehrt digital sein. Dadurch ist klar, dass man in diesen Wechsel kommt, wo es lokale Gruppen vor Ort gibt, aber die große Vorlesung gleichzeitig im Stream läuft oder aufgezeichnet wird.“ Unglaublich anstrengend seien diese hybriden Modelle besonders auch für die Lehrenden.

Auf dem Weg zu einer gänzlich digitalen Universität wiederum stößt man schnell auf den Stolperstein „Prüfungen“. „Die größte Herausforderung dabei ist, die ehemalige Beaufsichtigung durchzuführen und die persönliche Anwesenheit im digitalen Raum sicherzustellen. In vielen Fällen müsste die Form der Leistungsfeststellung geändert werden. Man sollte zum Beispiel kleinere Aufgaben stellen, kombiniert mit Abgabegesprächen und mündlichen Prüfungen, die online ja kein Problem sind“, schlug Ebner vor. Grenzen gebe es etwa bei Mathematik: „Man kann Formeln online nicht wirklich gut eingeben. Rechengänge funktionieren fast nur schriftlich, da ist die Präsenzprüfung unschlagbar.“

Kostenlose digitale Kurse

Bereits 2013 haben die Technische Universität (TU) Graz und die Uni Graz mit iMoox.at die erste und bis dato einzige Plattform für Massive Open Online Courses (MOOCs) in Österreich gestartet und dort digitale Hochschul-Kurse kostenlos für die Allgemeinheit zugänglich gemacht. Nach einem kürzlich erfolgten Relaunch können nun alle heimischen Hochschulen ihre Online-Kurse dort kostenlos zur Verfügung stellen. Lehrende bekommen so hochqualitatives Material, das sie im Rahmen von Vorlesungen oder Seminaren verwenden können. Die gewonnene Zeit lässt sich beispielsweise dazu nutzen, mit den Studierenden Diskussionsrunden oder Übungsaufgaben zu machen. „Da ist man eher im Sinne eines Coaches unterwegs, statt eine Vorlesung nur runterzubeten“, so Ebner. Derzeit sind rund 100 in sich abgeschlossene Kurse kostenlos online verfügbar.

Studium orts- und zeitungebunden möglich

Aber egal, welche Stolpersteine es noch gäbe, sei man durch die Pandemie unabsichtlich zehn Jahre nach vorne katapultiert worden und nun grundsätzlich in der Lage „Online Education“ durchzuführen. Wie diese konkret aussehen könnte, ist unklar. „Wer zwei Jahre online studiert hat, wird vielleicht kein Problem damit haben, sich auch Lehrveranstaltungen von anderen Universitäten zu holen und sein Studium viel flexibler sehen. Da entstehen ganz neue Szenarien. Man kann ein Studium auch orts- und zeitungebunden denken“, so der Medieninformatiker. So könnte künftig ein Studierender seine Zeit bei der TU Graz verbringen oder als hybrid Lernender zwischen TU München, TU Wien und TU Graz online hin und her pendeln.

„Der internationale Druck erhöht sich, weil das System flexibler wird und die Studierenden frei entscheiden können. Als Hochschule muss man auf diesen sich drehenden Markt reagieren, was unglaublich herausfordernd ist. Die starke regionale Präsenz als Bildungsinstitution wird immer stärker aufgehoben. Hier gilt es, seine Rolle zu finden. Aus meiner Sicht ist das eine schöne Herausforderung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in einen Zustand wie Vor-Covid zurückfallen. Dazu haben wir inzwischen zu viel Know-how aufgebaut und die Vor- wie Nachteile erkannt“, sagte Ebner.

Distanz-Lehre nicht für alle ausreichend

Allerdings sollte nicht der Fehler gemacht werden, zu glauben, dass die reine Distanz-Lehre für alle ausreichend sei. „Einerseits gibt es sicher Personengruppen für die das aufgrund ihrer Situation nicht möglich ist. Andererseits sind Labore in der Ausbildung sehr wichtig. Aber man kann sich jetzt verstärkt auf Dinge konzentrieren, wo für Studierende klar ist, warum sie an der Hochschule sein müssen. Diese Präsenzzeit sollte effektiv genutzt werden. Der Rest findet online statt“, ist Ebner überzeugt. Es werde aber auch Ausnahmen in einzelnen Fachdisziplinen geben, wo es einen hohen Präsenzanteil braucht.

„Generell gibt es jetzt eine höhere Bereitschaft, digitale Elemente zuzulassen, die vor zwei Jahren kaum vorhanden war. Dadurch kommt Bewegung ins System. Vielleicht gibt es künftig Universitäten, die sich bewusst für die Präsenz entscheiden. Studierende gehen dann dort hin, weil sie es schätzen, dass alles vor Ort angeboten wird. Aber in Zukunft müssen wir mit allen Gruppen rechnen und das war vor der Pandemie nicht so“, erklärte der Experte.

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