apa.at
Mehr zum Thema / Anna Riedler / Freitag 18.12.20

Wer hat Angst vorm bösen Wolf? Der Wald im Zwiespalt

Österreichs Wälder befinden sich im Zwiespalt. Naturschutz oder touristische Nutzung? Erholung oder Entfremdung? Heimat böser Wölfe oder doch helfender Elfen und zipfelbemützter Zwerge? APA-Science hat mit Experten und Expertinnen geredet und die Hintergründe des Balanceaktes beleuchtet.
Bild: Sieghartsleitner

Im Wald, da lauern sie. Der böse Wolf, die kinderfressende Hexe, die Räuberbanden. Erwachsene wissen, dass dem nicht so ist – das ungute Gefühl, nachts allein in einem dunklen Wald unterwegs zu sein, bleibt. Unter dieser symbolischen, anerzogenen Prägung befindet sich der genetische Bezug, nach dem Menschen Wald mit Schutz verbinden, einem Rückzugsort vor Fressfeinden, erklärt Ulrike Pröbstl-Haider vom Institut für Landschaftsentwicklung, Erholungs- und Naturschutzplanung der Universität für Bodenkultur (BOKU) gegenüber APA-Science.

Der Mensch befindet sich also dem Wald gegenüber in einem innerlichen Zwiespalt. Auf die genetische Basis, nach der der Wald etwas Gutes bedeutet, wurde eine gesellschaftliche Ebene draufgelegt. Diese kann je nach Herkunft oder Geschlecht unterschiedlich aussehen. So hätten Studien gezeigt, dass die Angst vor dem Wald bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männern, so Pröbstl. Und bei vielen Menschen aus beispielsweise der Türkei sei der Wildnisbegriff in der Kultur nicht positiv belegt und die Bevölkerung könne dementsprechend an Wäldern weniger Positives erkennen.

Im Wald baden und gesund bleiben

Diese Ängste und Sorgen sind normalerweise unbegründet. Ganz im Gegenteil ist wissenschaftlich gut belegt, dass Waldaufenthalte sich positiv auf die geistige und körperliche Gesundheit auswirken. Im Bericht „Zur Gesundheitswirkung von Waldlandschaften“ des Bundesforschungszentrums für Wald in Kooperation mit BOKU und Medizinischer Universität Wien aus 2014 wurden internationale Studien zusammengefasst, die eine Reduzierung physiologischer Stressreaktionen feststellten. So verglichen diverse Untersuchungen Aufenthalte in einer Waldlandschaft mit Aufenthalten in urbanen Gegenden und registrierten eine anspannungsreduzierende Wirkung von ersteren– unabhängig davon, ob die Studienteilnehmer ruhten oder aktiv waren. In Japan wird deshalb seit einigen Jahrzehnten aktiv Shinrin-yoku betrieben. Der Begriff bedeutet übersetzt so viel wie „Waldbaden“ und bezeichnet Aufenthalte in Waldlandschaften zur Gesundheitsförderung.

Positive Effekte lassen sich übrigens auch beim rein virtuellen Besuch erkennen, wie Valtchanov, Barton und Ellard 2010 in ihrer Untersuchung „Restorative effects of virtual nature settings“ feststellten. Sie ließen Probanden zunächst stressige Aufgaben ausführen und anschließend einen Wald mittels Virtual Reality aktiv erkunden, was positive Auswirkungen auf ihren Stresslevel hatte. In Zukunft, heißt es im BFW-Bericht, könnten dadurch auch gesundheitsfördernde Waldaufenthalte für Personen möglich werden, für die der Besuch eines realen Waldes (beispielsweise aufgrund von körperlichen Behinderungen oder Krankenhausaufenthalten) nicht möglich ist.

Schon der Berührung von Holz wurden in einer Studie attestiert, im Gegensatz zu künstlichen Materialien keinen physiologischen Stress zu indizieren. Was Holz angeht, kam es in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem Gesinnungswandel, attestiert Pröbstl der Gesellschaft ein „Butcher-Syndrom“: Wurde der Wald vor rund zwanzig Jahren noch als Holzproduzent wertgeschätzt, wird heute mit dem Schlagen von Bäumen etwas Negatives assoziiert – und das, obwohl gleichzeitig Holz als Material geschätzt wird. „Man mag die Wurst, aber den Metzger nicht“, vergleicht Pröbstl.

Konsumation in homöopathischen Dosen

Die Einstellung dem Wald gegenüber habe sich in den letzten Jahrzehnten stark verschoben, erinnert sich Pröbstl an ihre eigene Kindheit zurück, die sie zu großen Teilen vor elterlichen Augen geschützt beim Spielen im Wald verbracht hat. „Dieses unkomplizierte Verhältnis zum Wald ist kaum mehr gegeben“, verweist sie auf Helikoptereltern und die strenge Gestaltung des Tages, vollgefüllt mit Flötenstunden und Ballettunterricht. „Der Umgang ist ein ganz anderer, wenn der Wald nur dosiert am Sonntagnachmittag gemeinsam mit den Eltern konsumiert werden kann“, betont sie. Untersuchungen hätten gezeigt, dass Kinder allmählich beginnen, sich selbst aus dem Wald „auszusperren“. Auf die Frage, was man im Wald nicht machen dürfe (Feuer machen, Lager bauen,…) hätten die Kinder das gleiche geantwortet, wie auf die Frage, was sie im Wald am liebsten tun würden (Feuer machen, Lager bauen,…).

Auch bei den Kleinwaldbesitzern lasse sich eine zunehmende Entfremdung bemerken. Die neue Generation, die „waldfernen“ Waldbesitzer, kämen häufig aus der Stadt und würden räumlich wie auch vom Wissen her eine große Distanz dazu aufweisen. Wegen fehlender Kenntnisse würden sie vermehrt dazu tendieren, ihren Grund nicht zu bewirtschaften. Auch hier ließen sich Geschlechterunterschiede erkennen, so Pröbstl, denn Frauen hätten einen naturnäheren Zugang als Männer. Auf die Frage, ob sie der Eingliederung ihres Waldes in ein Naturschutzgebiet zustimmen würden, waren bei einer Befragung mehr weibliche als männliche Kleinwaldbesitzer dafür – und das, obwohl Frauen mit diesem Habitat öfter Angst verbinden als Männer. Das sei kein Widerspruch, betont Pröbstl, „weil sie ja selber nix in dem Wald tun müssen, nur weil es ein Naturschutzgebiet wird.“

Nur mehr Kulisse

Generell nehme das Engagement dem Wald gegenüber ab, so die Forscherin. Der Wald wird zwar wegen Corona und einem steigenden Gesundheitstrend öfter frequentiert, für die Besucher ist er jedoch nicht mehr als eine Kulisse.

„Der Aufenthalt in der Natur ist ichbezogen“, so Pröbstl. „Waldbesuche sind ein therapeutisches Mittel gegen Stress, gegen Tinnitus und Co. Der Arbeitsstress hat zugenommen und man braucht eine Kompensation. Sportbegeisterte machen gern im Freien Sport, zur persönlichen Bereicherung, aber es gibt kein Engagement für oder in der Natur“, nennt sie als Beispiel Mountainbiker, denen der Bezug zu dem Lebensraum fehle, den sie durchfahren: „Sie sehen es als Sportumfeld, aber ohne darin Wildtiere oder Baumarten zu sehen.“ Die Frequentierung nehme zu – aber die Entfremdung auch.

Hund am Speiseplan

 

Diesen Gemütswandel stellt auch Franz Sieghartsleitner vom Nationalpark Kalkalpen immer mehr fest: „Man sucht intensiver Schutzgebiete und Wälder zu Erholungszwecken auf. Aber das Bewusstsein, Gast im Lebensraum anderer Arten zu sein, ist nicht sehr ausgeprägt“, berichtet er beispielsweise von Besuchern, die ihre Hunde frei im Gebiet laufen lassen. Dabei nehme nicht nur die Natur schaden. „Es verschwinden im Jahr zwei bis fünf Hunde bei uns, weil sie nicht mehr zurückfinden und in der freien Wildbahn Teil der Nahrungskette werden.“

 

Grundsätzlich käme es aber sehr selten zu Verstößen gegen die Verhaltensregeln: gelegentliches Mountainbiken abseits von ausgewiesenen Strecken, Pilzsuchen in der Naturzone – und (seit einiger Zeit und während des Lockdowns vermehrt) das Überfliegen des Gebiets mit Drohnen. Dadurch würden sich Wildtiere bedroht fühlen, Küken würden vor Schreck ihre Nester verlassen und gefressen werden oder erfrieren.

APA (dpa)

Auch im Nationalpark Gesäuse gibt es immer wieder Probleme, berichtet Nationalparkdirektor Herbert Wölger von jährlich rund 200 Wildcampern, zehn Lagerfeuern, 60 Personen in gesperrten Bereichen sowie einer ungezählten Anzahl an Skiabfahrten auf Wiederbewaldungsflächen (Schnitt der Jahre 2018/19/20). „Es ist immer eine Frage der Dosis. Ein bis zwei Wildcamper im Jahr wären kein Problem, aber wenn wir kein Aug drauf hätten, wären es hunderte.“

Wälder vor Besuchern schützen

In beiden Parks sorgt zu einem gewissen Grad die Topografie dafür, dass die Besuchermenge nicht überhandnimmt. Abseits der ausgeschriebenen Wanderwege wird das Vorankommen aufgrund von umgestürzten Baumriesen, Brombeerhecken und Ähnlichem schwierig, die Alpen mit ihren steilen Tälern und Bergen stellen ein weiteres Hindernis dar.

Dennoch seien es in diesem Jahr streckenweise zu viele Besucher gewesen, so Wögerl. „In den vergangenen Jahren haben Wandern und Natur wieder mehr Stellenwert eingenommen. Auch wenn Corona in ein, zwei Jahren vielleicht kein Thema mehr ist: Dass Ruhesuchende und Wanderer in den Wäldern unterwegs sind, wird weiter zunehmen.“ Damit der Balanceakt zwischen touristischer Nutzung und Naturschutz gelingt, brauche es gesellschaftlichen Konsens, Besucherlenkung und –bildung sowie Ruhegebiete. „Das können Täler sein oder Teile eines Waldes, die ausschließlich der Natur zur Verfügung stehen sollten.“

„Der schönste Wald“, so Sieghartsleitner, „ist der ursprüngliche.“ Dieser hat im Nationalpark Kalkalpen bis zu dreißig verschiedene Gesichter, von subalpinen Buchenwäldern über Schneeheide-Kiefernwälder, von Rauerlenauen über Sumpf- und Feuchtwälder hin zu Fichtenmurwäldern. „Die Natur hat für jede Höhenlage, jede Geologie unterschiedliche Experten“, weißSieghartsleitner. Im Schutzgebiet, der Kernzone der Nationalparks, „haben Tiere und Pflanzen Vorrang. Wer einmal in einem Urwald war, wird das nie wieder vergessen“, gerät er ins Schwärmen über Baumpilze, Gefäßpflanzen, Insekten. „Leider sind nur mehr zwei Prozent der österreichischen Wälder ursprünglich. Deshalb ist es besonders wichtig, diese Primärwälder unter Schutz zu stellen. Wenn sie einmal geschlagen werden, können sie nie wieder herbeigeschafft werden. Ich kann Stift Melk, ich kann den Stephansdom wieder aufbauen. Aber einen Urwald wieder zu machen, das ist nicht möglich.“

Vielfältiger Wald

Im Nationalpark Kalkalpen hat der Wald ...

Credit: Michael Schlamberger

...bis zu dreißig verschiedene Gesichter: Von Buchenwäldern ...

Credit: Sieghartsleitner

... über Auwälder, ...

Credit: Sieghartsleitner

... Kiefernwälder ...

Credit: Sieghartsleitner

... und subalpine Lärchenwälder ...

Credit: Sieghartsleitner

... bis hin zu Buchen-, Tannen- und Fichtenwäldern.

Credit: Sieghartsleitner

Gone, Forest, gone

Ein Versuch, auf künstliche Art und Weise einen Wald zu schaffen, wagte das Kunstprojekt „For Forest“, bei dem vor etwas mehr als einem Jahr im Klagenfurter Wörthersee-Stadion 299 Bäume gepflanzt wurden. Die Bilder gingen als Aufruf zum Klimaschutz um die Welt – ein Jahr später ist von dem fast fünf Millionen teuren Projekt nichts mehr zu sehen. Ein Teil der Bäume wurde in eine Gärtnerei gebracht, ein Teil in den Lakeside Science & Technology Park in Klagenfurt verpflanzt.

Der Wald ist seit jeher Inspirationsquelle für die Kunst. Er wird nachgebaut (so hat beispielsweise das Grazer „Breathe Earth Collective“ einen Wald in ein Gebäude gepflanzt). Er wird gemalt (wie beispielsweise vom französischen Maler Paul Cézanne für sein Gemälde Forest). In der Musik ist er vertreten (etwa im Projekt „See Aural Woods„, Teil des Wissenschaftsästhetikprogramms „Unseen Science“ des Bundesforschungszentrum für Wald (BWF), in dem Künstler Daten der Forstwissenschaft in akustische Klänge verwandelten – oder auch einfach im Kinderlied „Ein Männlein steht im Walde“).

Und er findet sich in der Literatur wieder. Für die Gebrüder Grimm war er Schauplatz unzähliger Märchen, für Ottfried Preussler der Wohnort des Räubers Hotzenplotz. Die kleine Maus traf hier auf den Grüffelo, Tarzan auf Jane, Katniss Everdeen erkämpfte sich mit Pfeil und Bogen bewaffnet den Weg durchs Gebüsch auf die Kinoleinwand, und bei J.J.R. Tolkien griffen die Bäume sogar selbst zu den Waffen.

Japanischer Werther-Effekt

Vom tropischen Urwald bis in die Weiten des Weltalls (I am Groot) reicht die Faszination natürlich auch bis nach Japan, wo ein bestimmter Wald makabren, weltweiten Ruhm erlangte: Aokigahara, gelegen am Fuß des Mount Fuji und der japanischen Mythologie zufolge Heimat ruheloser Geister. In den Fokus der Öffentlichkeit rückte der „Selbstmord-Wald“ wegen der hohen Zahl an Suiziden, die dort jedes Jahr verübt werden.

 

Der „Trend“ geht auf zwei Romane des Schriftstellers Matsumoto Seichō zurück, die Selbsttötungen in ebenjenem Wald behandeln und denen ähnlich wie den „Leiden des jungen Werther“ nach der Veröffentlichung Suizide folgten. Der Freitod ist in Japans Geschichte und Kultur seit Jahrhunderten fest verankert und wird durchaus mit Ehre und Aufopferung assoziiert, sich das Leben in einer schönen, schützenden Umgebung zu nehmen, also vielleicht im Einklang mit dieser Idealisierung. Dass sie dabei aber nicht nur ihre Körper, sondern auch vielfach ihren Müll zurücklassen, macht weniger Sinn.

Credit: APA (AFP)
Der japanische Aokigahara APA (AFP)
Stichwörter