Ukraine-Geflüchtete in Wien: Hohe Bildung und geringe Rückkehrwünsche
Ukrainische Geflüchtete, die wegen des russischen Angriffskrieges nach Wien kamen, können sich besser vorstellen lange zu bleiben und haben höhere formale Bildung als diejenigen in Krakau (Polen). Der Erwerbseinstieg hierzulande verläuft aber langsam, sagte Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der WU Wien zur APA. Die Ergebnisse ihrer Studie, an der auch Forschende der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beteiligt waren, erschien im Journal "Plos One".
Knapp zwei Jahre nach der Invasion Russlands in der Ukraine sind laut dem UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR mehr als neun Millionen Menschen auf der Flucht - fast sechs Millionen von ihnen haben in europäischen Ländern Schutz gefunden. Um diese Gruppe besser zu verstehen, haben die Forschenden im Frühjahr 2022 rund 1.500 Interviews zu sozio-demografischem Hintergrund, wirtschaftlichen Möglichkeiten und Erwartungshaltung in Ankunftszentren in Wien und in Krakau durchgeführt.
"Bei der Befragung hatten wir den großen Vorteil, dass alle Geflüchteten, die im Frühjahr 2022 in Wien bleiben wollten, im Austria Center Vienna Behördengänge zu erledigen hatten", sagte Co-Studienautorin Isabella Buber-Ennser vom Vienna Institute of Demography (VID) der ÖAW zur APA. So ein One-Stop-Shop sei in der Migrationsforschung eine seltene Gelegenheit. Vor Ort traf man, auch wegen der Mithilfe ukrainischer Studierender und Forschender, auf eine hohe Bereitschaft, die Fragebögen zu beantworten. Aus diesen Gründen ist das Vertrauen groß, einen guten Querschnitt der zu diesem Zeitpunkt angekommenen Gruppe zu haben, sagte Buber-Ennser weiter.
Das Ergebnis: Die überwiegend weiblichen Geflüchteten sind hochgebildet. So haben in der ukrainischen Allgemeinbevölkerung rund 30 Prozent der 25- bis 64-Jährigen einen tertiären Bildungsabschluss, in der Krakauer Stichprobe liege der Anteil bei 66 Prozent und in Wien bei 83 Prozent, heißt es in der Studie. Dass höher gebildete Personen über höhere Mobilität verfügen, ist in der Migrationsforschung bereits bekannt. Darüber hinaus sind diese Ergebnisse ein weiterer Baustein zum Nachweis des "Selbstselektionseffekts" unter Geflüchteten: "Selbstselektion meint, dass es sich bei Geflüchteten um eine selektive, also eine ausgewählte Gruppe handelt - die Personen, die dazu gehören, haben sich sozusagen selbst dafür auswählen können, weil sie über entsprechendes Kapital, finanziell und sozial, für die Flucht verfügen", erklärte Erstautorin Kohlenberger.
Das politisch Einzigartige an der Fluchtbewegung aus der Ukraine sei zudem die Aktivierung der "Massenzustrom-Richtlinie" gewesen. Dadurch hatten Ukrainerinnen und Ukrainer eine legale Möglichkeit zu flüchten und sich ihr Zielland auszusuchen. Die vielfältigen Gründe dafür, dass die Wahl auf Österreich fiel, waren für die Forschenden überraschend: "Da wurden Antworten genannt, die man landläufig nicht mit Flucht in Verbindung bringen würde, sondern mit regulärer Migration gut gebildeter Expats", so Kohlenberger weiter.
Vertrautheit und Deutschkenntnisse ausschlaggebend
Dementsprechend haben die Vertrautheit mit Österreich, etwa durch frühere Aufenthalte im Kontext von Tourismus, Studium und Arbeit, sowie zuvor bestehende Deutschkenntnisse eine große Rolle gespielt. Auch die hohe Lebensqualität und Freunde, Verwandte oder Bekannte, die schon in Wien gewesen sind, waren ausschlaggebend. "Das verdeutlicht, dass auch bei zur Flucht gezwungenen Personen die Entscheidung zum Aufbruch sowie die Wahl des Ziellandes multikausal ist - es geht eben nicht um Sozialleistungen, wie oft kolportiert wird, sondern meist um vorhandene soziale Netze im Zielland", sagte Kohlenberger. Zum jetzigen Zeitpunkt könne man feststellen, dass es oft diese sozialen Netze waren, die danach bei der Integration geholfen haben.
Das Nachbarland Polen wurde im Gegensatz zu Österreich häufig aufgrund der geografischen Nähe zur Ukraine gewählt. Dementsprechend sei die Bereitschaft, in Krakau zu bleiben, deutlich geringer als in Wien. Anders als in Polen verlaufe die Erwerbsaufnahme hierzulande jedoch schleppend, wie aktuelle Arbeitsmarktzahlen zeigen. Die Forschenden attestieren in Bezug auf die bessere Ausbildung einen paradoxen Effekt: "Höher gebildete Personen wollen oft mehr und länger in den Deutscherwerb investieren, bevor sie einen möglichst ausbildungsadäquaten Job suchen", erklärte Buber-Ennser.
Außerdem gaben fast 20 Prozent der Befragten an, in ihrem Heimatland in Gesundheits- und Bildungsberufen, also reglementierten Branchen, tätig gewesen zu sein. Gerade in diesen Bereichen gebe es in Österreich einen hohen Bedarf an Fachkräften: "Auch deshalb braucht es eine rasche Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen und unbürokratische Lösungen", sagte Kohlenberger.
"Da die Dequalifizierung, also der Umstand, unterhalb der jeweiligen Qualifikationen am Arbeitsmarkt tätig zu sein, bei Frauen nachweislich ausgeprägter ist, sollte die überwiegend weibliche Flüchtlingsbevölkerung aus der Ukraine mit niederschwelliger Kinderbetreuung, berufsbegleitender Weiterbildung und flexiblen Arbeitszeiten unterstützt werden", appellierte Kohlenberger. Denn diejenigen ukrainischen Personen, die es in der Zwischenzeit geschafft haben, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, seien meist überqualifiziert. "Das ist für die Betroffenen natürlich nicht optimal, aber auch schlecht für das Aufnahmeland, weil auf diese Art viel Humankapital verloren geht", resümierte die Forscherin.
Service: Studie online unter https://go.apa.at/5ei2y9Uo
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