Polykrisen: Sozialer Zusammenhalt macht Gesellschaft widerstandsfähig
Der Ansicht vieler Forscher oder politischer Analysten nach befinden wir uns in einer "Polykrise" aus Klimawandel, Naturkatastrophen, wirtschaftlicher Ungleichheit, politischer Lagerbildung, gewaltsamen Konflikten und mehr. Komplexitätsforscher haben nun eine historische Datenbank ähnlicher Krisen aufgebaut, um darin nach Faktoren zu suchen, die es Gesellschaften erlaubt haben, solche Situationen zu meistern. Stabilität bringt demnach vor allem sozialer Zusammenhalt.
Ein internationales Wissenschafterteam um Peter Turchin und Daniel Hoyer vom Complexity Science Hub (CSH) in Wien arbeitet seit Jahren an einem auf mathematischen Methoden basierenden Ansatz im Rahmen der geschichtlichen Forschung. Dabei greift man auf die von Turchin mit aufgebaute "Global History Databank Seshat" zurück. Das ist eine Sammlung historischer und archäologischer Daten für 373 Gesellschaften weltweit.
Für ihre aktuelle, in einer Spezialausgabe im Fachmagazin "Philosophical Transactions B" erschienenen Studie extrahierten die Wissenschafter aus den Seshat-Daten eine eigene "Krisen-Datenbank" (CrisisDB) mit Informationen über 150 historische Entwicklungen in verschiedenen Weltregionen. Dabei konzentrierte man sich auf Abläufe, bei denen klimatische Veränderungen, etwa in Form von länger andauernden Dürren, Phasen erhöhter Erdbeben- oder Vulkanaktivität oder die vom 15. bis ins 19 Jahrhundert reichende "Kleine Eiszeit" eine große Rolle spielten, heißt es am Montag in einer Aussendung des CSH.
Erst kürzlich veröffentlichten Turchin und Hoyer im Fachmagazin "Plos One" eine Analyse zur von 1644 bis 1912 andauerten Herrschaft der Qing-Dynastie in China, auf die sie sich auch in der aktuellen Arbeit beziehen. Zu deren Untergang führte demnach eine Vervierfachung der Bevölkerung, die die Landbevölkerung verarmen und viele Personen in begehrte Führungspositionen in der Verwaltung drängen ließ.
Osmanen managten Krisen besser
Enttäuschte Eliten wurden dann zur Triebfeder für blutige Aufstände und Bürgerkriege, die der Staat mit großem Aufwand zu unterdrücken versuchte. In Kombination mit wirtschaftlichen Problemen setzte das der Dynastie dann ein Ende. Letztlich stürzte die Herrschaft gewissermaßen darüber, dass es nicht gelang, die ansteigenden sozialen Ungleichheiten und den sozialen Druck zu reduzieren, so die Forscher.
Wie unterschiedlich solche Polykrisen gemanagt wurden, zeigen die Wissenschafter nun auch anhand des Beispiels des "Osmanischen Reiches", das vor allem Ende des 16. und am beginnenden 17. Jahrhundert besonders stark von Dürren in Folge der "Kleinen Eiszeit" getroffen wurde. Dass das riesige Reich damals nicht im völligen Chaos versank, führen die Forscher in der aktuellen Studie vor allem darauf zurück, dass der soziale Zusammenhalt trotz der schwierigen Lage und Unruhen aufrecht erhalten werden konnte. Das gelang etwa durch ein funktionierendes Bewässerungssystem in der Landwirtschaft, die Aufrechterhaltung der Trinkwasserversorgung und einem System der Ressourcenverteilung, das trotz insgesamt hoher Sterberaten besonders Bedürftigen ein Überleben ermöglichte. "Anders als bei den Qing wurden diese Systeme so lange aufrechterhalten, bis sich die Umweltbedingungen verbesserten", schreiben die Forscher in ihrer Arbeit. Das Osmanische Reich bestand dann noch Jahrhunderte fort.
Auch für das Ende der Hochblüte der zapotekischen Kultur im heutigen südlichen Mexiko um das Jahr 900 nach Christus halten die Wissenschafter fest, dass angesichts von ausgedehnten Dürreperioden in der Region im 9. Jahrhundert die Anzeichen auf ein zunehmendes soziales Auseinanderdriften der Gesellschaft zunahmen. So stieg etwa der Anteil größerer, repräsentativer Bauten in der Hauptsiedlung Monte Alban im Vergleich zu den Epochen davor um diese Zeit an. Auch die Selbstdarstellungen der herrschenden Kaste nahmen damals überhand und es gab Anzeichen für Machtkämpfe innerhalb der Eliten. Das führte zwar nicht zu einem Kollaps dieser Zivilisation, aber zu einem Abwandern großer Bevölkerungsteile in kleinere Siedlungen in der Gegend.
Der wichtigste Schlüssel, um als Gesellschaft in einer Mehrfach-Krise zu bestehen, liegt der Analyse zufolge darin, den sozialen Zusammenhalt möglichst zu erhalten und zu fördern. Das habe sich zuletzt auch im Verlauf der Covid-19-Pandemie gezeigt: In Ländern mit tendenziell höherem Zusammenhalt wurde die Krise effektiver gemanagt und Abstandsregeln eher beachtet, meinen die Wissenschafter. "Angesichts der Tatsache, dass wir uns in einer Zeit befinden, die von zunehmenden ökologischen und wirtschaftlichen Verwerfungen, Ungleichheit und großen Konflikten geprägt ist", sollte man sich also darauf konzentrieren, die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit zu stärken, so Hoyer.
Service: https://dx.doi.org/10.1098/rstb.2022.0402