Klimaforscher Schellnhuber: Das System beginnt unruhig zu werden
Im heurigen Jahr scheint das Wetter verrückt zu spielen. Unwetter, Starkregen, Wirbelstürme, Hitze, Überflutungen - "wir sehen neue Phänomene, wir sind an einem Punkt, an dem sich der Charakter des Systems verändert", warnte der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber beim Verbund Energy Summit 2023. Um irreversible Schäden am Klimasystem zu verhindern, sogenannte Kipppunkte, gelte es nun, Maßnahmen zu setzen, die nicht nur klimaneutral, sondern klimapositiv wirken.
Die gegenwärtige geologische Epoche, das seit rund 12.000 Jahren andauernde Holozän, sei klimatisch von unglaublicher Stabilität geprägt gewesen. Nun scheine sich das zu ändern, das Klimasystem beginne unruhig zu werden. "Ganz gleich, wohin Sie schauen, die Kurven verlassen den normalen Bereich", sagte der Forscher, der mit 1. Dezember den Posten des Generaldirektors beim Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg (NÖ) übernimmt.
Schellnhuber wurde mit seiner Forschung zu "Tipping Points", den Kippelementen, bekannt. Dabei handle es sich um Elemente im Klimasystem, die nach und nach in einen anderen Zustand gestürzt werden könnten, wenn die Erde sich erwärmt. Zu diesen Kippelementen zählt etwa das Abschmelzen des Meereises in der Arktis, des Grönländischen Eisschildes und das Auftauen von Permafrostböden. Außerdem die zunehmenden Waldbrände in den gemäßigten Klimazonen, die steigende Trockenheit im tropischen Regenwald sowie die sich verlangsamende Atlantische Umwälzströmung, die sich wiederum auf den Monsunregen negativ auswirkt.
Der Klimaforscher verglich das Erdsystem mit einem menschlichen Organismus, die Kippelemente seien die "lebenswichtigen Organe der globalen Umwelt". Wenn die innere Körpertemperatur eines Menschen um zwei Grad steigt, ist er bereits krank. Bei drei oder vier Grad Erhöhung würde langfristig ein lebenswichtiges Organ nach dem anderen kollabieren, "und so ist das auch mit der Erde". Machen wir weiter wie bisher, könnten die Temperaturen um sieben, acht oder mehr Grad steigen.
Pariser Klimaziele "weichste Art von Politik"
Das Pariser Klimaziel, die globale Erderwärmung auf zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, sei nicht willkürlich gewählt: "Weil wir, wenn wir unter zwei Grad bleiben, nahezu alle fatalen Kippprozesse vermeiden können", sagte Schellnhuber. Zu diesem Zweck sei es notwendig, bis zur Mitte des Jahrhunderts Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Österreich hat sich vorgenommen, diese Klimaneutralität bereits 2040 zu erreichen, das sei "ziemlich einmalig", es gebe wenige Länder mit diesem Ziel.
Dennoch seien die Pariser Klimaziele aufgrund ihres nicht-bindenden Charakters "die weichste Art von Politik, die man sich vorstellen kann. Bei der wichtigsten Frage der Menschheit haben wir die schwächsten Instrumente", sagte Schellnhuber.
Die 1,5-Grad-Schwelle werde voraussichtlich bereits heuer touchiert und in den kommenden fünf bis sechs Jahren dauerhaft überschritten werden, die Zwei-Grad-Grenze werde in zehn bis 30 Jahren erreicht sein. "Das heißt, wir haben eine Overshoot-Dynamik", sagte Schellnhuber. "Wir müssen davon ausgehen, dass wir das Raumschiff Erde aus dem sicheren Bereich heraustreiben werden", so der Klimaexperte.
Die Frage sei nun, wie man die Temperatur zurück in den sicheren Bereich bringen kann, der laut Einschätzung Schellnhubers bei rund einem Grad Erwärmung liegt. Das Ziel sei dabei, die Überschreitung so gering und so kurz wie möglich zu halten. Dazu seien Maßnahmen notwendig, die nicht nur klimaneutral, sondern klimapositiv wirken. Es gehe also darum, Emissionen nicht nur zu verhindern, sondern bereits ausgestoßene Treibhausgase der Atmosphäre wieder zu entziehen.
"Demineralisierung der Wirtschaft" der Wirtschaft als Ziel
Schellnhuber will dazu "die Photosynthese in unseren Dienst stellen". Gemeint ist damit ein Fokus auf Aufforstung einerseits und die Nutzung der Biomasse als Bausubstanz andererseits. Ziel sei dabei die "Demineralisierung der Wirtschaft". 2020 habe die Menge der von Menschen produzierten Masse, also etwa Beton, Asphalt oder Metalle, erstmals jene der Biomasse übertroffen. Würde man diese Entwicklung umkehren, und die mineralische Masse nach und nach durch organische ersetzen, dann würde die Biosphäre mittels Photosynthese von selbst CO2 aus der Atmosphäre ziehen, erklärte der Klimaexperte.
Am Ende ihrer Lebenszeit müsste diese Biomasse dann aus den Wäldern entnommen werden und könnten als Rohstoffe in der Bauwirtschaft genutzt werden. Schellnhuber verwies etwa auf Holzbau, Bambus und Hanfziegel. "Es gibt eine riesige Palette von Möglichkeiten, wie ich Häuser, ganze Städte, Infrastruktur organisch baue, statt mineralisch." Das sei zwar ein langfristiges Unterfangen, Schellnhuber sprach von einem "Zwei-Jahrhundert-Projekt", es sei aber wesentlich günstiger und besser skalierbar, als die meisten technischen Lösungen, wie etwa Geoengineering.
Angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise gibt es immer mehr Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die sich auch politisch engagieren. "Das ist ein schmaler Grat", sagte Schellnhuber. Er glaubt, dass "wir als Wissenschafter immer eine gewisse neutrale Position einnehmen müssen, das macht unsere Glaubwürdigkeit aus", so der Forscher.