Plädoyer für "engagierte statt distanzierte Wissenschaft"
Gegen eine distanzierte und für eine "engagierte Wissenschaft" plädierte die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger bei einer Pressekonferenz zum Thema "Wissenschaftsskepsis". Forscher sollten sich "den Problemlagen der Welt annehmen, Lösungen anbieten, den Diskurs nicht scheuen und zu großen Fragen eine aus wissenschaftliche Evidenz genährte Haltung haben. In diesem Zusammenhang wünschte sie sich "keine expertenhörige, sondern eine expertenzuhörende Politik".
Bei dem vom "Wissenschaftsnetz Diskurs" veranstalteten Pressegespräch haben neben Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien, der Virologe Andreas Bergthaler von der Medizinischen Universität Wien und dem Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Politikwissenschafter Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien, Ursachen, Mechanismen und Auswirkungen der Wissenschaftsfeindlichkeit in Österreich am Beispiel der Corona-Pandemie, der Migration und der Klimakrise beleuchtet. Hintergrund ist das seit Jahrzehnten in Umfragen den Österreichern bescheinigte geringe Interesse an Wissenschaft, verbunden mit einer ausgeprägten Wissenschaftsskepsis.
Wissenschafter werden als "Eliten" dargestellt
Obwohl sich die Welt vielen als zunehmend unübersichtlich und krisenhaft darstelle und daher nach Einordnung verlange, würden Wissenschafter zunehmend als losgelöst von Lebensrealitäten, von der Welt außerhalb des Elfenbeinturms, wahrgenommen, sagte Kohlenberger. Denn wissenschaftliche Objektivität als Grundwert werde oft "als kühle Distanz bis hin zu elitärer Abgehobenheit" erlebt und für populistische Strömungen sei es daher ein Leichtes, Wissenschafter als Eliten darzustellen. Politiker würden mit Aussagen wie "Wissenschaft ist das eine, Fakten sind das andere" nur bedingt hilfreich sein. "Wissenschaftsskepsis bis hin zu Wissenschaftsfeindlichkeit in Österreich ist kein Zufall, wenn sie nicht sogar von höchster Stelle befeuert wird", so Kohlenberger.
In der Diskussion über die Klimakrise ortet Steurer "eine Menge Unsinnigkeiten, die den politischen Diskurs bestimmen" und wo man als Wissenschafter ständig korrigieren müsse, wenn von "übertriebenem Klimaschutz" die Rede ist, der "zurück in die Steinzeit führt", von "Untergangsirrsinn" oder davon dass man die "Klimakrise allein mit Technik lösen" könne. All dies verleugne wissenschaftlichen Konsens und es sei "direkte Wissenschaftsverleugnung, wenn jemand gegen Denkverbote, für Technologieoffenheit und für Hausverstand argumentiert. Das ist der Versuch, physikalische Gesetze auszuhebeln".
Als Wissenschafter sei es schwierig, mit Botschaften durchzukommen, weil die Politik "angenehme Märchen erzählt, etwa dass Österreich Vorreiter im Klimaschutz ist, dass wir das alles mit Technik lösen können, usw. - wer hört das nicht gerne. Wir sind dazu berufen hinzuweisen, dass das zum Teil Lügen sind, zum Teil Selbsttäuschungen", so Steurer. Wenn Wissenschafter versuchen, den entgegenzusteuern, "machen wir uns nicht beliebt - das ist im Moment ein unangenehmer Job, weil das, was wir sagen, unangenehmen Realitäten sind - und der einfachste Zugang, damit umzugehen, ist Skepsis". Aus diesem Grund würden sich zunehmend Wissenschafter gar nicht mehr an die Politik wenden: "Ich hab das schon aufgegeben. Wir gehen deshalb auf die Straße, stellen uns hinter Klimaaktivisten und sehen darin mehr Potenzial, ein Umdenken in der Gesellschaft zu bewegen", so Steurer.
Bergthaler warnte aber davor, es sich nicht zu leicht zu machen und nur auf die Politik und Politiker zu schimpfen, denn man lebe in einer Demokratie. "Wir sind bisher gescheitert, diese Themen so in die Breite zu bringen, dass dann die entsprechenden Politiker gewählt werden, die solche Perspektiven vertreten", sieht er auch eine Verantwortung der Wissenschaft. Es gebe genug an der Politik zu kritisieren, "aber eigentlich sollte unser Ziel sein, wie wir es langfristig schaffen können, dass dem Rationalismus eher zugeneigte Anschauungen stärker vertreten sind. Dazu müssen wir vor allem die Jungen erreichen".
Naturwissenschaftliche Grundbildung gefragt
Länder mit einer höheren "Scientific literacy", also einer naturwissenschaftlichen Grundbildung, würden sich hier leichter tun. "Wenn die Bevölkerung viel früher versucht, rational an komplexe Situationen heranzugehen und Lösungen nicht nur in Granderwasser oder Homöopathie sieht", könne man viel besser mit komplexen Situationen umgehen, so Bergthaler. Portugal, das sich vor zehn Jahren noch mit Österreich um Schlussposition in der Eurobarometer-Umfrage zum Wissenschaftsinteresse gematched habe, habe es binnen kurzer Zeit geschafft, mit dem Ausbau von Wissenschaftszentren und mehr Engagement an Schulen diese "Scientific literacy" deutlich zu steigern. Kohlenberger verwies darauf, dass "Wissenschaftskommunikation als Bollwerk gegen Wissenschaftsskepsis Ressourcen braucht", ebenso wie der Wissenschaftsjournalismus hierzulande Ressourcen brauche.