Klimaretten im sozialen Praxistest
Genossenschaftsläden, die als Nahversorger dienen, nachhaltige Wohnprojekte oder Energiegemeinschaften: Sozial innovative Klimaexperimente orientieren sich im Gegensatz zu rein technischen Lösungsansätzen zumeist an konkreten lokalen Bedürfnissen. Welchen Beitrag kleine Ideen zur großen Transformation leisten und wie sie erfolgreich umgesetzt werden können, haben Forschende vom Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) und der Technischen Universität (TU) Wien unter die Lupe genommen.
"Die Klimakrise macht eine Änderung unserer Lebens- und Wirtschaftsweise notwendig. In Realexperimenten kann herausgefunden werden, was in der Praxis funktioniert und was nur in der Theorie. Derzeit befassen sich Wissenschaft und Politik aber vor allem mit technischen Lösungen und vernachlässigen soziale Innovationen, wie neue Handlungsweisen und neue Formen der Zusammenarbeit", erklärt ZSI-Forscher Wolfgang Haider. Beispiele dafür seien gemeinschaftlich betriebene Solarkraftwerke, Bürgerräte, die Mitsprache ermöglichen, oder das Teilen von Ressourcen, wie Car-Sharing.
Bisher war der Blick auf jene Experimente verstellt, die nicht prioritär neue Technologien, sondern sozialen Wandel erproben wollen, pflichtet Johannes Suitner, Experte für Urbane Nachhaltigkeitstransformationen an der TU Wien, bei. Derzeit spreche man eher von soziotechnischen Systemen, es brauche sowohl die technologische Lösung als auch die gesellschaftliche Transformation. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen haben die Wissenschafter deshalb das soeben abgeschlossene und vom Klima- und Energiefonds geförderte Forschungsprojekt SIAMESE initiiert.
Fokus auf regionale Herausforderungen
Ziel war, spannende Initiativen, die mit sozialen Lösungen arbeiten, vor den Vorhang zu holen und besser zu verstehen, was sie auszeichnet und aus welcher Motivation sie entstehen. Vermutet wurde, dass die Innovationslogik hier anders funktioniert als bei technischen Ansätzen, bei dem etwas an einem Ort probiert und wenn es funktioniert, zu einer großen Lösung skaliert wird. "Sozial innovative Klimaexperimente gehen von konkreten sozialen Bedürfnissen aus, stehen in einem räumlichen Kontext und fokussieren auf regionale Herausforderungen. Auf dieser Basis entstehen neue Rollen, neue Akteure und neue Praktiken", so Haider.
Es sei schon in einem Vorprojekt klar geworden, dass die sozialen Problemstellungen und Beziehungen der Akteure berücksichtigt werden müssten. "Ein Photovoltaik-Paneel kann man überall aufs Dach packen. Bei einem Sharing-Konzept geht es hingegen um den politischen Rahmen, historisch gewachsene Strukturen von Gemeinden und Regionen, Kulturfragen und die Kooperationsbereitschaft", erläutert Suitner. Wichtig seien auch die Machtverhältnisse in der Gesellschaft und in der Region, also wer es zum Beispiel in der Hand habe, Entscheidungen in Energiefragen zu treffen.
"Einer der Vorteile von sozial innovativen Klimaexperimenten ist, dass sie durch diese Fokussierung auf den regionalen Kontext und die sozialen und regionalen Bedürfnisse prinzipiell eher angenommen werden", ist Haider überzeugt. Ein Problem sei die Hemmschwelle, daran teilzunehmen und Zeit zu investieren. Werde diese überwunden, habe der Anspruch der Co-Kreation und die gemeinsame Entwicklung von Lösungen aber großes Potenzial. "Eine Umfrage im Rahmen des Projekts hat gezeigt, dass die Teilnehmenden an diesen Experimenten ganz gezielt darauf aus sind, diese lokalen Probleme anzugehen", sagt Suitner.
Man kennt sich und ist vernetzt
Beispiel dafür sei ein Genossenschaftsladen, der aus dem Bedürfnis der Bevölkerung nach sozialer Infrastruktur und einem lokalen Nahversorger entstanden ist und eine passgenaue Lösung für die Probleme vor Ort bieten sollte. "Diese Initiativen sind möglicherweise von woanders inspiriert, aber sie entstehen wirklich aus dem lokalen Bedürfnis, getrieben von Akteurinnen und Akteuren vor Ort. Da gibt es ein Bewusstsein der Geschichte und der Ziele der Region. Man kennt die Gemeinde, kennt die Bürgerinnen und ist vernetzt. Das sind alles Vorteile, die für sozial innovative Experimente sprechen", befindet der Experte.
Zwar dämpfe der Fokus auf lokale Herausforderungen das Skalierungspotenzial, allerdings gebe es von der Konzeption über Prozesse, Beteiligungsverfahren und Mitmach-Motivation viele Dinge, die man aus so einem Experiment lernen und in anderen Kontexten umsetzen könne. "Beim Projekt Paris Vorderwald ist es beispielsweise darum gegangen, dass Haushalte in Vorarlberg für zwei Monate versucht haben, die Pariser Klimaziele zu erreichen, quasi den Lebensstil so umzustellen, dass sie klimagerecht leben", so Haider. Natürlich gebe es hier spezifische Herausforderungen, etwa hinsichtlich Mobilität. Bei der Umsetzung in Baden seien viele Prozesse aber ähnlich abgelaufen, auch wenn hier eher die letzte Meile im Vordergrund stand. Durch eine Vervielfältigung der Lösungen könne auch eine größere Wirkung erzielt werden.
Umfrage unter 116 Initiativen
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden österreichweit 116 Initiativen, die sozial innovative Experimente durchführen, befragt, um abseits vereinzelter Vorzeigebeispiele ein Gesamtbild sichtbar zu machen. Es habe sich gezeigt, dass vor allem persönliche Netzwerke, lokales Wissen und der Austausch mit ähnlichen Gruppierungen erfolgversprechend sind. Treiber vieler Experimente sei die Zivilgesellschaft, gefolgt von politischen und administrativen Akeurinnen und Akteuren. Bei den Themen würden Energie, Mobilität, Landwirtschaft und Ernährung dominieren. Viele Initiativen verknüpfen aber verschiedene Themen miteinander und entfalten so ein höheres transformatives Potenzial, stellen die Forscher fest.
"Beim Beispiel des Genossenschaftsladens geht es natürlich ganz stark um die Frage der Nahversorgung, aber durch das Angebot von lokalen, regionalen Produkten kann man auch Wertschöpfung in der Region halten. Die enge Vernetzung und der Austausch führen wiederum dazu, sich über andere Fragen der regionalen Entwicklung zu unterhalten, etwa über Transportwege, oder generell Mobilität und regionale Entwicklungspolitik", sagt Suitner. Im Rahmen von Fallstudien habe sich bei der Grätzlmarie, ein Projekt zu Klimawandelanpassungen in Wien, herausgestellt, dass man gezielt auch die migrantische Bevölkerung ansprechen und mitnehmen müsse. "Da geht es plötzlich nicht mehr nur um die Frage der Begrünung und Entsiegelung, sondern auch um gesellschaftliche Fragen von Teilhabe und Inklusion in Planungsfragen", meint der Fachmann.
Eines der Haupthindernisse bei den Klimaexperimenten seien etablierte Strukturen. "Wenn man mit einem Experiment in dem institutionellen Rahmen operieren muss, den man gleichzeitig verändern will, ist das schwierig, da beißt sich die Katze in den Schwanz. Hier stoßen viele Akteurinnen und Akteure mit einer Idee und wenig Ressourcen an ihre Grenzen", so Suitner, der darauf verweist, dass manche Initiativen eventuell Personen oder Gruppen mit mehr Entscheidungsmacht nicht in den Kram passen würden. Man dürfe nicht falsche Erwartungen hegen, dass das kleine Experiment in der Landgemeinde die große Transformation stemme.
Zu wenig strukturiert und institutionalisiert
"Es passiert viel Austausch und wechselseitiges Lernen ohnehin schon untereinander. Zufällig kennt wer wen, jemand hat etwas gehört oder einen Bericht gesehen. Aber vieles ist nicht strukturiert oder institutionalisiert. Da fehlt es oftmals an Unterstützung und klassischen Kapazitäten, das dann auf den Boden zu bringen", erklärt Suitner. Bei institutionellen Förderschienen, wie den Klima- und Energie-Modellregionen (KEM), den Klimawandel-Anpassungsmodellregionen (KLAR!) und den LEADER-Regionen, würden tolle Dinge gemacht, aber dann oft nicht miteinander und untereinander kommuniziert, so Haider.
Hier wollen die Forscher mit ihrem Projekt TRAIBHAUS – Transformative Innovation Hub Austria ansetzen, mit dem ein Netzwerk und Forum geschaffen werden soll, bei dem Klimainitiativen und Klimapolitik zusammenkommen, um voneinander zu lernen und das gewonnene Wissen über experimentelle Ansätze zu bündeln. Derzeit würden in einer LinkedIn-Gruppe Erkenntnisse aus SIAMESE und der Praxis der Mitglieder geteilt und der niederschwellige Austausch gefördert. Außerdem gebe es Events wie den "Kanon der Klimaexperimente" und ein "Experimentation Bootcamp" für KEM-, KLAR!- und LEADER-Managerinnen sowie andere Umsetzer von Klimaexperimenten, die kürzlich in Wien stattgefunden haben. Ziel sei nun, "unser sehr analytisches Wissen nach zwei Jahre intensiver Forschung in die Praxis zu tragen", so die Forscher.
Service: Forschungsprojekt SIAMESE
(Diese Meldung ist Teil einer Medienkooperation mit dem ZSI - Zentrum für soziale Innovation.)