Besser spät als nie - Lehrer werden mit 40
Quereinsteiger machen einen gar nicht so kleinen Anteil an Österreichs Lehrerschaft aus. Während es schon eigene Programme gibt, die berufliche Umsteiger für den Unterricht ausbilden, haben I-Hsien Chen und Dieter Annerl - wenn auch teilweise mit Umwegen - eine klassische Lehrerausbildung abgeschlossen, bevor sie jeweils ab dem 40. Lebensjahr das Abenteuer Schule in Angriff nahmen.
Auf recht verschlungenen Wegen, die ihn von Asien nach Wien und Kärnten führten, ist der gebürtige Taiwanese I-Hsien Chen zu seinem heutigen Beruf als Volksschullehrer gelangt. Mit seinen Eltern wanderte er im Alter von fünf Jahren nach Österreich aus. Eingeschult wurde er noch in Wien. In der Bundeshauptstadt gab es aber schon mehr als genug China-Restaurants und als Vater und Mutter eine Gelegenheit sahen, in einer kleineren Stadt wie Villach ein solches zu eröffnen, ergriffen sie diese und I-Hsien besuchte fortan das Peraugymnasium in der zweitgrößten Kärntner Stadt. Als sich in der Oberstufe abzeichnete, dass der Sohn studieren würde, zog die Familie wieder nach Wien. "Die Eltern sind ja sehr mobil bei den Taiwanesen. Denen ist wurscht, wo sie wohnen", sagt Chen mit einem Lachen.
Wien - Villach - Wien
In Wien studierte der Sohn alsdann Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien und arbeitete anschließend in der Halbleiterindustrie - dafür ging es zunächst wieder sieben Jahre lang nach Villach. Die letzte berufliche Station vor dem Umstieg war dann beim Leiterplattenhersteller AT&S. Als Chen mit 40 Jahren Vater wurde und seine Frau einen Job an einer Universität hatte, sah er die Zeit für einen Wechsel angebrochen. Er absolvierte das damals noch dreijährige Bachelorstudium für Lehramt an Volksschulen (heute: vier Jahre) und stieg anschließend an der VS Am Hundsturm im fünften Wiener Gemeindebezirk in das Bildungswesen ein.
Einfacher wäre es für den Wirtschaftswissenschafter freilich gewesen, sich das Studium zu ersparen und per Sondervertrag etwa an einer Handelsakademie zu unterrichten. Mit solchen Verträgen werden alle Personen beschäftigt, die nicht über die vollen Anstellungsvoraussetzungen verfügen - das betrifft etwa auch Absolventen reiner Fachstudien, Native Speaker für die Abdeckung der Minderheitensprachen oder des muttersprachlichen Unterrichts bzw. Lehrer für den fachpraktischen Unterricht an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen (BMHS).
Mit einem Sondervertrag an einer BMHS hätte Chen zwar weniger finanzielle Einbußen im Vergleich zu seinem vorherigen Job gehabt. Das wollte er aber nicht und entschied sich bewusst für die Volksschule: "Für mich ist das nie infrage gekommen. Ich wollte das Volksschulalter. So von sechs bis zwölf Jahren ist das tollste Alter - noch vor der Pubertät, wo jeder Tag noch lustig ist und die Kinder wollen noch alle lernen, sind formbar und motiviert. Dann kommt halt meistens der große Bruch."
Mittlerweile kann der 50-Jährige schon auf sieben Jahre Berufserfahrung verweisen. Zwei Jahre lang war er Hauptlehrer einer Klasse, danach wechselte er in die Rolle als Begleitlehrer, derzeit betreut er die 4A-Klasse mit. "Die Klassenführung ist nervlich ziemlich aufreibend. Als Klassenvorstand bist du für alles, was in der Klasse passiert, verantwortlich."
Keine homogenen Gruppen mehr
Verglichen mit früher sind Lehrer viel stärker gefordert, ist sich der passionierte Tennisspieler sicher. "Die Kinder werden immer unterschiedlicher, in dem Sinne, dass man keine homogene Gruppe mehr hat. Der Gap zwischen den willigsten und unwilligsten Kindern ist riesig - zwischen den schnellen und den langsamen, den gut vorbereiteten und den katastrophal vorbereiteten." Deshalb müsse man den Unterricht sehr flexibel gestalten. "Es geht gar nicht darum, ob die Kinder gescheit sind oder nicht, sondern darum, ob sich jemand kümmert, wie die Kinder vom Elternhaus her gefördert werden. Das ist eine enorme soziale Frage."
Ein Einflussfaktor auf den Unterricht ist in Wien auch der stark gestiegene Anteil an Kindern mit nicht deutscher Erstsprache, an der VS Am Hundsturm sind das fast 90 Prozent. "Die Eltern sind oft Migranten der zweiten Generation. Die sprechen schon ein ordentliches Deutsch, aber halt kein korrektes. Zuhause wird Serbokroatisch gesprochen oder Türkisch. Korrektes Deutsch müssen die Kinder dann bei uns lernen, aber das geht in den vier Jahren, die wir mit ihnen haben." Hilfreich erweist sich dabei, dass es sich um eine Ganztagsschule handelt, die Schüler haben also viel mehr Lehrerzeit als in einer Halbtagsschule. "Es ist wichtig bei einem so hohen Anteil mit Kindern mit nicht deutscher Muttersprache, dass sie so lange zusammenbleiben, Deutsch sprechen und dass auch Lehrer da sind, die ihnen helfen."
Warum?
Im Hinblick auf die eigene Schulzeit fällt Chen auf, dass "wir vielleicht folgsamer bzw. folgsamer erzogen waren". "Wenn du den Kindern heute sagst: 'Das geht nicht', dann fragen sie dich: 'Warum?'" Ob das gut im Sinne von kritischem Denken ist oder schlecht, indem es den Unterricht mühsamer macht, wird wohl oft im Einzelfall zu beurteilen sein. "In gebildeteren Kreisen heißt es oft, super, wenn die Kinder einen eigenen Willen haben. In sozial schwächeren Schichten sind die Kinder oft gar nicht erzogen und wissen überhaupt nicht, was Respekt ist."
Dazu komme, dass sich Eltern insgesamt viel mehr einbringen würden als früher. Auch das könne man positiv sehen ("Sie sind interessierter") oder negativ ("Einmischung"). Chen will das nicht als Jammern verstanden wissen, sondern nur als Feststellung dazu, was sich im Vergleich zu früher geändert habe. Er ist mit Freude und Begeisterung Lehrer und freut sich darüber, dass seine Schule es so gut schaffe, Kinder mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund vier Jahre lang geordnet durch das Leben zu begleiten und in die nächsten Schulen zu entlassen.
Wenn sich jemand über die angebliche Leichtigkeit des Seins als Lehrer amüsiert, sagen zwar viele als Nachsatz, sie würden ohnehin nicht tauschen wollen. Trotzdem lädt Chen dann den Betreffenden gern im Spaß dazu ein, einmal eine Stunde eine Klasse zu führen: "Ich schaue mir an, wie lange du überlebst." Menschen wie er, die aus der Wirtschaft kommen, würden zwar ab und zu in der Woche Präsentationen haben, aber niemals fast jede Stunde ihrer Wochenarbeitszeit im Präsentationsmodus verbleiben - wie ein Lehrer.
Kritisch sieht er die Tatsache, dass eigentlich gesamtgesellschaftliche oder erzieherische Fragestellungen allzu oft auf die Schule abgewälzt würden - Umweltbewusstsein, Gendern, Fairness, Sexualität. "Alles, was die Kinder an Werten übernehmen sollen, kommt als Unterrichtsprinzip rein. Für die Umsetzung hat man ein Manual, aber das ist es dann. Da ist oft sehr viel nur plakativ", so Chen. Könnte er die Bildungspolitik eine Zeit lang bestimmen, würde er sofort die sechs- oder achtjährige Gesamtschule einführen - "weil du dann gleiche Chancen für alle Kinder hast, und mehr Zeit".
Von der Online-Redaktion ans Gymnasium
Eine gänzlich andere Laufbahn als Chen hat der ehemalige Journalist Dieter Annerl genommen. Aber auch er stieg im Alter von 40 um, in seinem Fall von der Online-Redaktion der Abteilung Multimedia der APA - Austria Presse Agentur an ein Gymnasium in Wien. Der Übergang verlief in mehreren Etappen zwischen der Beendigung des Lehramt-Studiums in Deutsch und Geschichte, Teilzeit-Arbeit in der APA und teilweiser Lehrtätigkeit, bis nach ein paar Jahren die Entscheidung ganz für die Schulkarriere fiel.
Den endgültigen Schritt an das "GRG 15 Auf der Schmelz" bereut der gebürtige Wiener auch in seinem achten Dienstjahr nicht - obwohl er natürlich auch Lehrgeld bezahlen musste. "Ich bin mit der Erwartung in den Job gegangen, dass das eine äußerst vielseitige Tätigkeit ist. Das war mir klar. Dass es aber am Anfang so belastend wird, das war mir nicht klar." Mangels Routine hat der Junglehrer in seinem ersten Jahr noch sehr lange für die Vor- und Nachbereitung der Stunden und für das Korrigieren gebraucht: "Das war alles noch keine Routine, da habe ich extrem viel gehackelt", blickt Annerl trotzdem entspannt zurück.
Matura als Highlight
Denn in der Zwischenzeit hat er auch die schönen Seiten des Berufs kennenlernen dürfen. Als er zum ersten Mal eine Klasse - insgesamt sechs Jahre lang - bis zur Matura begleitete und die Schüler ins Leben verabschiedete, sei das ein äußerst emotionales Erlebnis gewesen. "Wir sind sehr zusammengewachsen, sie haben mich sehr gemocht und ich sie auch", so Annerl. Entsprechend hat er dieses Ereignis, das für ihn auch mit viel positivem Feedback seitens der Schüler verbunden war, als "absolutes Highlight" erlebt. In dieser Form war das auch nicht mit dem vorangegangenen Job zu vergleichen, während es als Lehrer viel stärkere emotionale Ausschläge nach oben und unten gebe.
Als beruflicher Umsteiger hat sich Annerl einen kritischen Blick bewahrt. Den neuen Lehrerdienstvertrag empfindet er etwa als ungerecht, denn darin gebe es bei einer höheren Lehrverpflichtung zwar ein höheres Einstiegsgehalt, die Lebensverdienstsumme sei aber viel niedriger. Ein Anliegen wäre es ihm auch, wenn Fächer im Lehrerdienstrecht divergenter behandelt würden, also stärker nach den tatsächlichen Aufwänden mit Vor- und Nachbereitung bemessen würden und nicht mehr oder weniger über einen Kamm geschert. "Eine Stunde in Deutsch kostet drei Mal so viel Zeit wie eine Stunde Geschichte."
Parallelen zur Gegenwart
Das Interesse für seine beiden Fächer begleitet ihn im Grunde schon seit seiner HAK-Schulzeit, nun könne er sich da gewissermaßen "austoben": "In Geschichte versuche ich bei fast jedem Thema Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. Mein Schwerpunkt ist das politische System in Österreich." Bei seinen Schülern pocht er besonders darauf, dass sie die Zusammenhänge zwischen Nationalratswahl und Regierungsbildung oder der Regierung und dem Parlament begreifen. "Das ist außerordentlich schwierig und abstrakt, auch noch in der Oberstufe. Da braucht man einfach Zeit."
Diese Zeit habe man aber nicht immer, gehe die Tendenz doch in Richtung einer Vereinheitlichung von Lehrinhalten und dahin, die Lehrer im Curriculum immer mehr einzuschränken. "Natürlich nimmt jede Vereinheitlichung dem Lehrer seine Freiheit", kritisiert Annerl. "Sollte das weitergehen und die Lehrer eines Jahrgangs übereinkommen müssen, welche Bücher zu lesen sind und was sie zum Beispiel in Literaturgeschichte genauer unterrichten, dann würde ich das als sehr negativ empfinden", weist er auf einen Aspekt der Neuen Oberstufe (NOST) hin, die derzeit auf Eis liegt und bis Ende 2019 evaluiert wird.
Schwerpunkt "Nichts"
Eigene Schwerpunktsetzungen seien letztlich die Würze am Beruf. Zwar habe es ein Lehrer einfacher, wenn er quasi immer ein gewisses Programm herunterspule. "Ich habe das noch nie gemacht, weil mir immer etwas Neues einfällt und weil ich das ein wenig langweilig finde." Was hat er in Deutsch zum Beispiel an eigenen Schwerpunkten eingebracht? "Nichts", antwortet Annerl - mit dem Titel eines Jugendbuchs der dänischen Schriftstellerin Janne Teller über einen jungen Nihilisten, das er vor Jahren einmal gelesen hat und dann mit Schülern einer 7. Klasse durchnahm.
Gar nicht nihilistisch betrachtet er aus heutiger Sicht seine Entscheidung, ganz auf Lehrer umgesattelt zu haben, auch wenn er "extrem schweren Herzens" von der APA gegangen ist: "Aber nach drei Jahren Teilzeit habe ich gewusst: Beides geht nicht."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science