"Normal": Wissenschaftskritik an Instrumentalisierung des Begriffs
Die Coronakrise beflügelte den Begriff "Normalität" und den Wunsch danach. Bezüge auf "normal denkende Menschen" in politischer Rhetorik, etwa in Bezug auf Klimaaktivisten oder politische Extreme, haben jüngst die Debatte bestimmt. Wissenschafter sehen die politische Instrumentalisierung des Begriffs im Gespräch mit der APA kritisch. Ihre Einordnungen reichen von politischem Irrglauben, Normalität definieren zu können, bis hin zum "philosophischen Trugschluss".
Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hatte ursprünglich mit ihren "Normalen"-Bezügen bei Anliegen in puncto Gendern oder Klimaschutz die Debatte ausgelöst. Kritik kam u. a. von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) sowie Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der in seiner Eröffnungsrede bei den Bregenzer Festspielen darauf Bezug nahm und vor ausgrenzender Sprache warnte. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) pochte im Gegenzug auf Meinungsfreiheit. Wissenschaftlich betrachtet zeigt sich, dass Bezüge zur Normalität kaum unverfänglich sind.
"Normalität" ist in der Philosophie kein besonders gebräuchlicher Begriff, sagt der deutsche Philosoph Frieder Vogelmann und verweist auf Michel Foucault, der Normalität dahingehend kritisch untersucht hat, welche Form der Machtbeziehung eingesetzt werden, um Normalität durchzusetzen. Vogelmann grenzt zunächst "Normalität" kritisch von "Normativität" ab, wobei Letztere beschreibt, was sein soll: Beziehe man sich mit "normal" auf statistische Mehrheitsverhältnisse, sei dies eine deskriptive Aussage, also die Beschreibung des Istzustandes. "In der Politik scheint mir weitverbreitet, aus dem deskriptiven Begriff der Mehrheitsverhältnisse umstandslos bestimmte normative Aussagen abzuleiten - also Aussagen, die das 'Sollen' und damit etwa erwünschte Verhaltensweisen beschreiben", so der Wissenschafter der Universität Freiburg.
Der Philosoph David Hume hat bereits im 18. Jahrhundert postuliert, dass man nicht von einem "Sein" auf ein "Sollen" schließen kann. Diese Ableitung sei ein "naturalistischer Fehlschluss" bzw. "philosophischer Trugschluss", so Vogelmann, der sich "hervorragend zur Instrumentalisierung" eigne: Nur weil etwa die meisten Frauen stärker an der Kindererziehung beteiligt sind, könne daraus nicht gefolgert werden, dass sie dies auch in Zukunft sein sollen. "Man rechtfertigt mit herrschenden Verhältnissen, was sein sollte, ohne zu fragen, ob dies gerechtfertigt ist und Ursachen für den Zustand zu hinterfragen."
Verschleierung der eigenen Position
Die Bemühung des Begriffes Normalität in der Politik diene wohl in erster Linie dazu, die eigene Position zu verschleiern: "In einem System wie unserem, wo wir ständig einen rücksichtlosen Raubbau an der Natur sehen und die Umwelt durch kapitalistische Systeme beeinträchtigt wird, heißt die Verteidigung dieser Normalität die Verteidigung des Kapitalismus mit all seinen Problemen." Hinzu komme eine Ausgrenzung derjenigen, "die - oft auch mit guten Gründen - anders denken als die Mehrheit", so wie etwa in der Klimadebatte. "Historisch wissen wir, wozu ein Abstempeln Andersdenkender als abnormal führen kann", sagt Vogelmann im APA-Interview. "Normal" gegensätzlich "radikal" gegenüberzustellen sei ebenfalls problematisch: "In der Politikwissenschaft würde man von der 'Hufeisentheorie' sprechen, die durchgängig diskreditiert ist - also die Idee einer Normalität in der Mitte, die von zwei radikalen Seiten eingegrenzt ist." Die Extreme gleichzusetzen, sei in der Politikwissenschaft stark umstritten.
"Normalität ist ein sehr schillernder Begriff, der umgangssprachlich etwas anderes bedeutet als in manchen Fachsprachen", sagt der deutsche Medizinethiker Heiner Fangerau. Der Begriff gehe im Lateinischen ursprünglich zurück auf "einer Regel entsprechend". Er tauche verbreitet in der frühen Neuzeit auf, im 17. und 18. Jahrhundert, einer Zeit, in der nach Regeln gesucht worden sei, wie die Welt funktioniert. Heute könne man mit Normalität etwa eine statistische Verteilung oder ein Verhalten verbinden, so der Wissenschafter der Universität Düsseldorf. In der Psychologie bedeute der Begriff etwa, sich regelgerecht zu verhalten. In der Umgangssprache vermischen sich statistische und verhaltensbezogene Normvorstellungen, wobei Verhalten und Denken im Vordergrund stehen.
"Das Problem ist, dass keine Naturgesetze oder statistische Verteilungen, sondern Machtverhältnisse bestimmen, was normal ist und was nicht." "Der weiße Engländer" habe im britischen Kolonialismusdenken die Norm, das Normale dargestellt, an der alle anderen nicht Normalen gemessen wurden. Mengenverhältnisse haben sich hier dramatisch umgedreht bzw. waren nicht relevant. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich aber gezeigt, dass die Polarisierung von "normal" und "nicht normal" sich zunehmend aufgelöst habe, bei mehr gegenläufigen Trends wie etwa einer zunehmenden Pathologisierung bei gleichzeitiger Depathologisierung. "Hyperaktivität bei Kindern wird heute mehr akzeptiert, die Akzeptanz von nicht angepasstem Verhalten nimmt zu. Gleichzeitig aber gibt es eine gesteigerte Wahrnehmung von Behandlungsbedürftigkeit, etwa auch zur Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit in der Schule. Das Schöne ist, dass die Welt noch nicht untergegangen ist, obwohl die ursprünglichen alten bürgerlichen Kategorien 'normal' und 'nicht normal' nicht mehr funktionieren", so Fangerau, der sich im Rahmen eines Projektes mit der zunehmend brüchigen Differenz von "normal" und "verrückt" im psychologischen Kontext beschäftigt.
"Normalität" symbolisiert Stillstand
Der Ruf nach "Normalität" im politischen Diskurs symbolisiere ein Festhalten an Altbewährtem, Stillstand und an alten Dichotomien, "weil sie das Denken so schön einfach machen", so der Forscher. Man halte es schlecht aus, dass die Welt kompliziert ist. Denkökonomisch sei es da leichter, in Kategorien wie normal und nicht normal zu denken.
In der Verwendung des Begriffes "Normalität" sei keine verantwortungsvolle, integrative Politik zu entdecken, höchstens die Reduktion von Komplexität zum Zweck des Griffes nach der großen Mitte der Gesellschaft, sagt auch der Wiener Sprachphilosoph und Politikwissenschafter Paul Sailer-Wlasits gegenüber der APA. Normalität vonseiten der Politik sprachlich zu definieren oder abzugrenzen, "stellt eine Kompetenzüberschreitung dar". Die Politik könne keine Normalität definieren oder verordnen, "sie kann nur Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für Möglichkeiten schaffen". Alles andere beinhalte auch die Gefahr, dass einem programmatischen Ausschlussversuch Andersdenkender und gesellschaftlicher Minderheiten Vorschub geleistet wird.
Der sogenannten "Normalität" ist für Sailer-Wlasits im gesellschaftlichen Kontext und im politischen Sprachgebrauch mit größter Skepsis zu begegnen. Sie sei ohne präzisen Kontext ein vager Begriff, ähnlich unscharf wie "direkte Demokratie".
Der Wissenschafter prägte 2018 die Begrifflichkeit "Neue Normalität" im deutschsprachigen Raum und hinterfragte sie kritisch. Wie bereits Hume gezeigt habe, gebe es die "Sein-Sollen-Barriere", so Sailer-Wlasits. "Aus einem Sein kann und darf - auch wenn viele sich das vielleicht wünschen - kein Sollen abgeleitet werden." Das sind zwei verschiedene Welten, so der Wissenschafter, die Barriere "kann weder ethisch noch rechtsphilosophisch überwunden werden."