Energiebilanz von Erbeben anhand von fossilem Gestein erhoben
Fossile Erdbebengesteine sind Zeitzeugen lange zurückliegender Beben. Ein internationales Team unter Beteiligung von Michel Bestmann von der Universität Wien konnte nun mit Hilfe einer hochpräzisen Methode im Rasterelektronenmikroskop aus Gesteinsproben die Energiebilanz von 600 Mio. Jahre zurückliegenden Erdbeben ableiten. Das liefert detaillierte Einblicke in bisher nicht aufschlüsselbare seismische Kräfte, die im Untergrund in bis zu 80 Kilometer Tiefe wirken können.
Schon bisher ging man davon aus, dass in etwa 20 Prozent der bei einem Erdbeben freigesetzten Energie in die Ausbreitung seismischer Wellen fließen. Diese ist durch Seismografen auch gut messbar. Wohin der Großteil der Energie, also die restlichen 80 Prozent, fließt, analysierte nun ein Team um Giovanni Toffol von der Universität Padua. Die Arbeit erschien im Fachjournal "Sciences Advances".
"Tatort" in Australien
Als Ausgangsmaterial nutzten die Forschenden Proben aus der "Woodroffe Thrust"-Verwerfung in Zentral-Australien, welche sich durch ein Erdbeben vor 520 bis 630 Mio. Jahren in circa 20 Kilometer Tiefe gebildet hat. Heute befinden sich die Erdbebengesteine freiliegend an der Erdoberfläche. "Ohne fossile Erdbebengesteine hätten wir keinen Zugang zu jenen Tiefen, wo Erdbeben entstehen", erläuterte Bestmann, beteiligter Geologe der Uni Wien, gegenüber der APA.
Es handelt sich bei dem untersuchten Gestein um Pseudotachylit. Das sehr feinkörnige, glasartig aussehende Material ist durch Teilaufschmelzung eines Granulits (einer Art hochmetamorphen Granits) an tektonischen Verwerfungen entstanden. Erdbeben sind dabei Ausdruck der sich dort aufgebauten Spannung, die die Gesteinsfestigkeit überschritten hat und sich beim Bruch des Gesteins wieder löst. Die Brüche würden sich - gesteinsunabhängig - rasend schnell, mit bis zu einem Kilometer pro Sekunde ausbreiten, so Bestmann. Bei der sich anschließenden Bewegung entlang der gebrochenen Gesteinsflächen zueinander liege die Geschwindigkeit nur noch bei einem Meter pro Sekunde, also Schrittgeschwindigkeit. "Aber in großer Tiefe der Erdkruste herrscht ein sehr großer Druck. Damit kommt es zu lokalen Aufschmelzungsereignissen entlang der Bewegungsbahnen der Bruchflächen", so Bestmann.
Hier, an der Spitze der sich schnell ausbreitenden Brüche tief in der Erdkruste, "wird eine große Spannung generiert", so Bestmann. Wohin die spannungsbedingte freigesetzte Energie fließt, konnten die Forschenden über Mikrostrukturanalysen im Rasterelektronenmikroskop an den Komponenten des australischen Pseudotachylits analysieren. Sie erhoben dabei die Energiebilanz, die in der Zone der Bruchfläche vorherrscht. Abseits der seismischen Wellenenergie mit einem Anteil von 20 Prozent "ist der größte Anteil der verbleibenden 80 Prozent Reibungsenergie, welche in Form von Wärme freigesetzt wird und zur Aufschmelzung des Gesteins führt. 100-mal geringer als die Reibungsenergie ist jene Energie, die aufgebracht wird, um das Gestein über Mikrobrüche aufzubrechen und in kleinere Korngrößen zu fraktionieren. 1.000 Mal geringer als die Reibungsenergie ist jene, die letztlich in die Verformung der Kristalle im Kristallgitter geht und so auf der kleinsten Ebene wirkt", so Bestmann.
Letztere sei - trotz ihres geringen Anteils - entscheidend, denn sie gebe auch Aufschluss über Restspannungen, die nach dem Erdbebenereignis auch wieder "aus dem Kristallgitter heraus" im größeren Kontext wirken und letztlich auch zu Nachbeben beitragen können. "Das Mikrogefüge entwickelt sich auch nach dem Beben weiter, und zwar abhängig vom energetischen Zustand in dem Kristallgitter", so der Geologe, der u.a. auch Pseudotachylite in den Alpen untersucht.
Hohe Restspannung
"Bisher hatte sich niemand angeschaut, wie viel freigesetzte Energie bei Erdbeben in die Verformung des Kristallgitters geht", sagte Bestmann. Über berechnete Dichtebestimmungen von Fehlstellen im Kristallgitter konnte man hier entsprechende Erkenntnisse gewinnen. Dabei zeigte sich auch, wie groß die Spannung an der Spitze von sich schnell ausbreitenden Brüchen tief im Untergrund ist: "Die Spannungen betrugen in unserem Fall für nur wenige Millisekunden mindestens 5 Gigapascal - das entspricht einem Druck in einer Tiefe von 150 Kilometern. Diese hohe Restspannung konnte über die große Dichte von Versetzungen im Kristallgitter von Granat berechnet werden."
Dadurch, dass das Gestein an der Bruchfläche durch das Aufbrechen stark zerkleinert und zerrieben wird, kann die freigesetzte Reibungsenergie Temperaturen von mehr als 1.200 Grad Celsius erzeugen und somit zu einem schnellen Aufschmelzen führen. Durch die viel geringere Umgebungstemperatur (etwa 450 Grad Celsius) kühlt es schnell ab, es kommt zu der für den Pseudotachylit kennzeichnenden sehr feinkörnigen, glasigen Struktur des Gesteins. "Ein Tachylit ist eigentlich ein vulkanisches Gestein. Der Pseudotachylit ist aber durch tektonische Prozesse geprägt und trägt daher 'Pseudo' im Namen", erklärte der Geologe.
Erdbeben bleiben - auch mit den Erkenntnissen der Studie - nicht präzise vorhersagbar. "Aber wir verstehen besser, wo die Energie hingeht - und Energie ist das, was Zerstörung produziert", so Bestmann.
Service: Studie online: https://doi.org/10.1126/sciadv.adi8533