B.1.1.529-Variante könnte Vakzinanpassung nötig machen
Mit etwas Sorge, aber ohne Panik blickt der an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York tätige österreichische Forscher Florian Krammer auf die im südlichen Afrika autgetauchte neue Variante "B.1.1.529". Derart viele Mutationen im Spike-Proteins seien "nicht gut". Es könnte sich hier um eine Variante handeln, die erstmals eine Anpassung von Impfstoffen notwendig mache. Zur Einschätzung brauche es aber noch mehr Daten: "Es ist zu früh, da etwas zu sagen."
Diese Meldung wurde aktualisiert.
Noch wisse man zu wenig darüber, ob der derart gestaltete Abkömmling des SARS-CoV-2-Erregers ähnlich infektiös oder sogar infektiöser ist, als die aktuell dominante Delta-Variante, so Krammer zur APA. Allerdings sehe es danach aus, als hätte sie das Zeug dazu, einer aufgebauten Immunabwehr besser zu entkommen.
Südafrika habe ein "wahnsinnig gutes System" zur genetischen Überwachung der Covid-19-Situation, aber selbst dort sei man davon offenbar "ein bisschen überrascht worden", so der Virologe. Es bestehe die Vermutung, dass es im Land schon deutlich mehr Fälle gibt, als die am Donnerstag kommunizierten 77.
"Kein Grund zur Panik"
Die neue Variante mit ihren alleine 32 Mutation im Spike-Protein, wie etwa an der Stelle, mit der das Virus an Zellen andockt, sei "besorgniserregend, aber auch kein Grund zur Panik". Ob sich der Mutationscluster als überlegen gegenüber der nun seit längerer Zeit beständig dominanten Delta-Variante erweist, sei offen.
Die neue Variante hat alleine zehn Mutationen in jenem Erbgut-Teil, der den Bauplan für jene Stelle am Protein liefert, mit der das Virus an menschlichen Zellen andockt (rezeptorbindende Domäne oder RBD). Das ist deutlich mehr als die aktuell dominante Delta-Variante, wie südafrikanische Forscher am Donnerstag erklärten. Dieser neuralgische Teil im S-Protein, den das Virus zum Eintritt über den AC2-Rezeptor in menschliche Zellen nutzt, präsentiert sich also sehr stark verändert.
"Ich frage mich, ob es noch an ACE2 bindet", so Krammer. "Die Oberfläche der RBD, die an ACE2 bindet, ist fast komplett ausgetauscht", konstatiert auch der Genetiker Ulrich Elling in einem Tweet und befürchtet, dass dies Einfluss auf die Fähigkeit des Erregers haben könnte, die Immunabwehr zu umgehen, sowie zu veränderter Übertragbarkeit und Symptomatik führen könnte. Die Experten weisen jedoch darauf hin, dass hier wichtige Labordaten noch ausständig sind.
Letztlich müsse man in Laborversuchen zeigen, wie gut die Impfstoffe dagegen wirken. "Es könnte sein, dass das die erste Variante ist, auf die man den Impfstoff anpassen muss - vielleicht aber auch nicht." Dass dies etwa bei der Beta-Variante noch nicht passiert ist, seit darin begründet, dass eine dritte Impfung mit einer darauf abgestimmten Impfstoffvariante keine besseren Ergebnisse erbracht habe, als mit dem "alten" Impstoff zu boosten, so Krammer.
Die Einschätzung einer Anpassung sei auch schwierig, weil einerseits in der zeitlichen Distanz zur Zweitimpfung bei vielen die Antikörperspiegel natürlich absinken und zusätzlich noch die deutlich ansteckendere Delta-Variante um sich gegriffen hat. Klar sei, "wenn man einen deutlichen Anstieg von schweren Infektionen unter Geimpften sieht, muss man das schnell anpassen". Bei den mRNA-Vakzinen von BioNTech/Pfizer oder Moderna sei das auch technisch innerhalb kurzer Zeit möglich. Die Firmen würden Delta-Anpassungen momentan auch testen, das sei aber regulatorisch und organisatorisch nicht unkompliziert. Eine Frage sei zudem, wie schnell dann dafür Zulassungen erteilt würden.
Nicht wieder "von Null anfangen"
Mit einem angepassten Impfstoff müsste man voraussichtlich nicht wieder mit der Grundimmunisierung beginnen. Wenn also einige im Vakzin enthaltene Bereiche des Antigens, gegen die das Immunsystem dann eine angepasste Antwort entwickeln soll, verändert werden, wandern die für die Erinnerung an den Virus-Teil zuständigen B-Zellen wieder in die Lymphknoten zurück. Dann kommt es zu einer Anpassung der veränderlichen Strukturen der Antikörper auf den neuen Reiz. Krammer: "Das Immunsystem kann das. Da muss man nicht von Null anfangen."
Der Forscher geht jedenfalls nicht davon aus, dass man längerfristig alle vier bis sechs Monate zur Boosterimpfung schreiten müsste. Auch wenn der Schutz nach zwei Impfungen mit der Zeit abnimmt, sei davon auszugehen, dass das Niveau nach der dritten Impfung nicht so weit absinkt. Dazu kommt die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass man mit dem Virus in Berührung kommt und eben wie oft. In Österreich ist diese leider momentan ziemlich hoch, in New York sei das gerade anders. Dementsprechend rät man in Hochinzidenzregionen auch zum früheren Boosten.
Längerfristig glaubt Krammer weiter, dass man Auffrischungsimpfungen eher nur "alle paar Jahre" abholen wird müssen. Mit der Zeit könnten sich durchaus Impfstoffe durchsetzen, die auch weniger der unbedenklichen, aber unangenehmen Nebenwirkungen haben, die man mit mRNA-Vakzinen oft beobachtet. Weiter interessant seien auch relativ bequem per Nasenspray zu verabreichende Wirkstoffkandidaten. Einen solchen entwickelt und testet auch ein Team um Krammers Kollegen in New York, den österreichischen Forscher Peter Palese. Man sollte auch die langsamer voranschreitenden Impfstoffentwicklungen "nicht abschreiben".
Wäre es tatsächlich notwendig, jedes Jahr gegen Covid-19 zu impfen, wären auch Kombinationsvakzine gegen das jeweilige Grippevirus interessant. Hier gebe es bereits Studien. "Das könnte ohne weiteres funktionieren", er sei aber skeptisch, dass eine jährliche Auffrischung überhaupt notwendig wird.
Experte: Impfungen "fast sicher" weniger effektiv gegen B.1.1.529
Die derzeit verfügbaren Corona-Impfstoffe sind nach Ansicht eines britischen Experten "fast sicher" weniger effektiv gegen B.1.1.529. Das sagte James Naismith, Professor für Strukturbiologie an der Universität Oxford, in der Radiosendung BBC 4 Today am Freitag.
Ob die Variante auch leichter übertragbar sei, könne anhand der vorliegenden Daten bisher noch nicht mit Sicherheit gesagt werden. "Wir vermuten das und es gibt einige frühe Daten", fuhr Naismith fort. Sollte sich eine leichtere Übertragbarkeit bestätigen, sei es unvermeidlich, dass die Variante auch nach Großbritannien gelange, so der Experte weiter.
Die Wissenschafterin Susan Hopkins vom Imperial College in London bezeichnete die neue Variante als "die besorgniserregendste, die wir je gesehen haben". Die in Südafrika bisher festgestellte Übertragungsrate (R-Wert) liege bei 2. Das ähnele den Werten zu Beginn der Pandemie, so Hopkins im BBC-Radio. Noch seien mehr Daten notwendig, um zu einer abschließenden Bewertung zu kommen.
Ein erneuter Anstieg von Infektionen in einem stark durchseuchten Land wie Südafrika lege jedoch nahe, dass dafür zumindest teilweise neue Variationen verantwortlich zu machen seien, fuhr Hopkins fort. Sollte sich eine höhere Übertragbarkeit bewahrheiten, würde die Variante "ein massives Problem", in der sie den in der Bevölkerung bestehenden Immunschutz umgehen könne.
Auch aus Sicht des südafrikanischen Virologen Shabir Madhi schützen herkömmliche Impfstoffe gegen die neue Corona-Variante B.1.1.529 nur bedingt. Dem TV-Sender eNCA in Johannesburg sagte er am Freitag: "Wir gehen davon aus, dass es noch einiges an Schutz gibt." Es sei aber wahrscheinlich, dass bisherige Impfstoffe weniger wirksam sein dürften.
Ausbreitung trotz Frühling
"B.1.1.529" lässt Experten darüber spekulieren, ob die vielen Veränderungen im Spike-Protein vielleicht dazu führen, dass der SARS-CoV-2-Erreger einen andern Weg in die Zelle nutzt. Diese vage Vermutung äußerte neben Krammer auch der Gesundheitsexperte Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS). Die Einreiseverbote seien nun die "richtige Maßnahme".
Für Czypionka ist frappant, dass sich die Variante in Südafrika ausbreitet, obwohl dort gerade Frühling herrscht: "Da müssten wir eigentlich eine Entspannung haben." Dazu kommt, dass sich in der Region eigentlich eine relativ hohe natürliche Immunität gegenüber den bisherigen Varianten eingestellt haben dürfte, weil viele Menschen schon in der Vergangenheit Covid-19 durchgemacht haben. Was B.1.1.529 für den Impfschutz bedeutet, sei unklar. Es weise aber vieles darauf hin, dass dieser schwächer sein könnte. "Allerdings ist auch relevant, ob sich diese Variante fitter als Delta ausbreiten kann. Das wird sich im Realitätstest noch zeigen. Wenn das der Fall ist, wäre das sehr, sehr ungünstig für den weiteren Pandemieverlauf", sagte Czypionka in einem vom IHS veranstalteten Pressegespräch.
Abseits von Spekulationen rund um B.1.1.529 gehe man durch den Lockdown hierzulande in den Prognosen "vorsichtig optimistisch" von sinkenden Inzidenzen aus. Allerdings sei die Vorausschau aktuell äußerst schwierig. Beim Thema Impfen habe sich leider nach einem kurzen Boom nach dem Ausrollen der 2G-Regelungen wieder eine "nicht so günstige Entwicklung" eingestellt. Es dauere zu lange, dass sich mehr Menschen impfen lassen, so Czypionka auch mit Blick auf die Influenza-Saison, deren Beginn im Jänner erwartet wird.
Wie viele Menschen in Österreich insgesamt schon eine Immunität durch Impfung oder durchgemachte Erkrankung aufgebaut haben, könne man leider aus Mangel an einschlägigen Seroprävalenz-Studien nicht genau sagen. Die Frage nach Sättigungseffekten bei den Neuinfektionen, die sich durch Immunität einstellen könnten, sei "leider schlecht zu beantworten". Das bringe Unsicherheit in die Prognosen.
Klar sei, mit den aktuell hohen Zahlen "produzieren wir jetzt Leute, die immun sind" - allerdings mit allen negativen Effekten wie dem Anwachsen der Sterbefälle oder vielen Personen, die unter Long Covid leiden werden. Die aktuelle Welle werde jedenfalls "sicherlich abflachen, auch wenn der Lockdown etwas schlechter funktioniert". Bei den Belegungen der Intensivstationen bleibe die Situation aber noch länger angespannt. Die Belagszahlen dürften künftig eher in Richtung 700 oder 800 Fälle gehen.