Wie sich der Journalismus in Krisenzeiten neu erfinden kann
Medien und Journalismus haben sich in den vergangenen 20 Jahren dramatischer verändert als in den Jahrhunderten davor, sagte der Medienforscher Andy Kaltenbrunner zur APA. Welche Innovationen sich im Angesicht von Digitalisierung, Globalisierung und damit einhergehender politischer Verwerfungen positiv auf den Journalismus in demokratischen Gesellschaften auswirken, untersuchte er mit einem internationalen Forscherteam im deutschsprachigen (DACH) Raum, England und Spanien.
Dabei war das Ziel des u. a. vom Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekts, sowohl auf theoretischer Ebene darüber nachzudenken, was Journalismus und Innovation im Kontext demokratischer Gesellschaften bedeuten, als auch innovative Vorhaben zu untersuchen. Die Ergebnisse umfassen unter anderem 100 konkrete Fallbeispiele in fünf Ländern und wurden nun in dem Band "Innovations in Journalism" bei Routledge veröffentlicht.
Zudem ging es in erster Linie nicht um wirtschaftliche Interessen und Gemengelagen, sondern darum, welche Qualität von Journalismus in Demokratien notwendig ist und wie sie erreicht werden kann, wie Kaltenbrunner erklärte. Deswegen beschäftigten sich die Forschenden auch mit den Voraussetzungen, die innovative Entwicklungen unterstützen oder hemmen können.
Österreich quasi Weltmeister am Print-Sektor
"Der DACH-Raum hatte eigentlich viele Vorteile: Österreich im Speziellen war immer und ist bis heute quasi Weltmeister in vielen Kategorien, was den Print-Sektor angeht", so der Forscher. Dies habe zufolge, dass die Notwendigkeit sich zu verändern nie so groß war wie in anderen Märkten. In Spanien habe sich etwa die Leserschaft im Printbereich von 30 Prozent der Bevölkerung um die Jahrtausendwende auf 15 Prozent halbiert - eine wirtschaftlich hochproblematische Entwicklung.
Die Halbierung der Leserschaft am heimischen Printmarkt von 75 bis 80 Prozent auf 40 Prozent im selben Zeitraum sei im Gegensatz dazu nicht so dramatisch gewesen. Südeuropa war außerdem von der Finanzkrise 2008 viel stärker betroffen, was eine Art "kreative Zerstörung" zur Folge hatte. "Diese Not hatten wir hierzulande bis jetzt nie - man kam immer irgendwie über die Runden, aber ich glaube, damit ist es jetzt endgültig vorbei", sagte Kaltenbrunner.
Zwar stelle die längere Vorbereitungszeit auf den Umbruch einen strategischen Vorteil dar, daraus folgt aber auch die Verpflichtung, die Entwicklung ernst zu nehmen und sich zu überlegen, wie man reagieren kann. Bezogen auf diese Reaktion sei man in Österreich eher behäbig gewesen. Das hänge auch wesentlich mit den medienpolitischen Rahmenbedingungen zusammen - allgemein sind jene nämlich innovationshemmend: "Was hierzulande Neues entsteht, muss sich gegen den Widerstand innerhalb der Medienunternehmen selbst und des Systems von Förderungen durchsetzen", sagte Kaltenbrunner.
Modelle "funktionieren aus Forschungssicht einfach nicht"
Denn es brauche zwar in einem kleinstaatlichen System wie dem österreichischen, das in einem zehnmal so großen Sprachmarkt arbeiten muss, starke Regulierung, Förderung und Unterstützung für nationale Medien - "aber die Modelle, die wir haben, funktionieren aus Forschungssicht einfach nicht", erklärte Kaltenbrunner. Ein Beispiel sei etwa die kürzlich etablierte Förderung für Qualitätsjournalismus, von der Boulevardmedien letztendlich den größten Teil bekommen haben. Weiters nannte Kaltenbrunner die neue Podcast-Förderung: Wenn diese in Zukunft nur die großen Player, die schon investiert haben und im Markt sind, fördert und nicht neue Ideen junger Journalistinnen und Journalisten, ergebe sich für Letztere ein wirtschaftlicher Nachteil.
Innovation ist zwar immer ein etwas "gummiartiger" Begriff, aber im Kontext des Journalismus soll sie neue Probleme für die Gesellschaft und die Medienorganisation selbst, auch im Hinblick auf die Finanzierung, lösen, erklärte der Experte. Trotz der strukturellen Probleme habe es in Österreich im Hauptbeobachtungszeitraum zwischen 2010 und 2020 keineswegs an Ideen gemangelt: "Das Audience-Engagement im Online-Forum des 'Standard' gilt quantitativ wie qualitativ als europäische Benchmark zum neuen gesellschaftlichen Diskurs in Traditionsmedien", sagte Kaltenbrunner. Relativ früh sei man dort nicht nur ernsthaft auf das Thema eingegangen, sondern habe auch die Moderation der Einträge und Diskussionen durch ein Team etabliert, das über eigens dafür entwickelte technische Tools verfügt.
APA hat Automatisierungstendenzen "früh ernst genommen"
Auch das APA-medialab erwähnte der Forscher: "Die Idee eines Labs als Innovationsanker innerhalb der Medienbranche, aber auch das Konzept, dass daraus die ganze Branche profitieren kann, wurde von uns als innovativ bewertet." Die APA habe im Beobachtungszeitraum auch Automatisierungstendenzen, aus denen die aktuelle KI-Debatte mitentstanden ist, früh ernst genommen. Ein "kleines Pionierprojekt" war laut dem Experten in Österreich zudem etwa das Magazin "Dossier": Daten- und Investigativjournalismus, der sich inseratenfrei finanzieren kann, war Anfang der 2010er-Jahre Neuland.
"Ich bin mir sicher, dass es in zehn Jahren hierzulande keine zwölf gedruckten Tageszeitungen mehr gibt. Diesem Umstand muss man sich vonseiten der Medienhäuser stellen und mit Mut Innovation betreiben", resümierte Kaltenbrunner. Dann bestehe, wie der internationale Vergleich gezeigt hat, durchaus die Chance, innovativen und finanzierbaren Journalismus zu betreiben.
Service: Link zu allen Fallbeispielen - https://innovations-in-journalism.com/case-studies; "Innovations in Journalism"; Hsg: Klaus Meier, Jose A. García-Avilés, Andy Kaltenbrunner, Colin Porlezza, Vinzenz Wyss, Renée Lugschitz, Korbinian Klinghardt; Routledge; 326 S.; 108 Pfund (rund 128 Euro); ISBN 9781032630397