Keine Angst vorm Mathe-Monster
Integrale, Gleichungen, imaginäre Zahlen - das Schaudern, mit dem viele Menschen an ihre Schulzeit zurückdenken, ist in vielen Fällen einem einzigen Fach geschuldet: der Mathematik. Dass es als Albtraumfach schlechthin gilt, sei aber größtenteils dem Unterricht geschuldet, verweist Didaktiker Michael Gaidoschik im Gespräch mit APA-Science auf die tiefe Kluft zwischen dem, was die Fachdidaktik an Empfehlungen ausspricht, und der verbreiteten Realität des Unterrichts.
Gaidoschik ist Professor für Didaktik der Mathematik im Primarbereich an der Freien Universität Bozen in Südtirol. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der frühen mathematischen Bildung und der Didaktik (also der Wissenschaft des Lernens und Lehrens) der Mathematik in Kindergarten und Volksschule, insbesondere auch von Schwierigkeiten beim Erlernen von Rechnen und Arithmetik.
In seinen Vorlesungen versucht er den Studierenden zu vermitteln, dass es bei Kindern Langeweile oder Angst auslöst, wenn man ihnen Formeln beibringt, ohne dass sie verstehen, was diese Formeln bedeuten und dass sie im Grunde nur praktische Abkürzungen darstellen, um Probleme zu lösen oder Zusammenhänge zu beschreiben.
Die Frage nach dem Warum
"Nehmen wir als Beispiel Brüche her", sagt der Vizedekan der Fakultät für Bildungswissenschaften, der gerade im Begriff ist, eine Lehrveranstaltung zu diesem Thema vorzubereiten. "Brüche sind etwas, das man im Alltag braucht und das einem laufend begegnet. Wenn man aber überlegt, wie man Brüche im Unterricht kennengelernt hat, denkt man meistens an eine Ansammlung von Regeln zum Umgang mit Zähler und Nenner."
Wenn er aber seine Studierenden, allesamt künftige Kindergärtner/innen als auch künftige Primarstufenkräfte, nach der Bedeutung einer simplen Division wie "3 dividiert durch 1⁄2" fragt, herrscht Stille im Hörsaal. "In der Regel habe ich dann im Saal hundert Studierende, und keiner kann mir eine passende Situation nennen. Dabei wäre die sehr einfach zu finden", weiß Gaidoschik: "Man könnte zum Beispiel sagen: In wie viele 50-Cent-Stücke kann ich drei Euro tauschen? Meine Studenten haben mir wiederholt glaubwürdig versichert, dass ihnen die Frage nach der Bedeutung und dem Warum nie jemand gestellt hat. Man hat ihnen gesagt, dass man beim Dividieren durch einen Bruch einen Kehrwert braucht, aber warum man den Kehrwert braucht, ist nicht behandelt worden. Es war einfach eine Regel: Dividiere durch einen Bruch, indem du mit dem Kehrwert multiplizierst." Es sei ein häufiger didaktischer Fehler, dass Regeln aufgestellt würden, ohne vorher Grundvorstellungen zu vermitteln. Und warum? "Sicher nicht, weil die Lehrkräfte es nicht anders wollen - sondern weil sie es auch nicht anders gelernt haben."
Der Weg zur Didaktik der Mathematik
"Ich bin für Italien eine Besonderheit", erklärt er. Dort sei der übliche Weg in die Fachdidaktik jener, Mathematik zu studieren und dann zur Didaktik zu kommen. Gaidoschik hingegen studierte zunächst Pädagogik an der Universität Wien und kam erst darüber zur Mathematik. "Im deutschsprachigen Raum ist das weit verbreitet, für Italien ist das aber sehr ungewöhnlich." Vor seiner Professur an der Universität Bozen gründete er das Recheninstitut zur Förderung mathematischen Denkens in Wien und war von 2014 bis 2016 als Professor für Didaktik der Mathematik in der Grundschule an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt tätig.
Den Anstoß für seinen Karriereweg gab also nicht die Liebe zur Mathematik, sondern die Beschäftigung mit Kindern, die Lernschwierigkeiten haben. Zunächst habe er sich in die Bereiche Lesen und Rechtschreiben vertieft. In den 90er-Jahren, erinnert er sich, war die Tatsache, dass viele Kinder schon in der Volksschule Probleme in Mathematik haben, ein neues Thema. Zur mathematischen Didaktik sei er gekommen, "weil ich schon recht früh festgestellt habe, dass ein großer Anteil dieser Lernschwierigkeiten durch den Unterricht bedingt ist. Das lässt sich auch empirisch beweisen und war für mich der Beweggrund, mich wissenschaftlich in diesem Bereich zu vertiefen."
An seine eigene Schulzeit habe er kaum Erinnerungen, erzählt er. "Ich weiß nur, dass ich nie Probleme mit Mathematik hatte, ich war einer von denen auf der glücklichen Seite. Wenn man in Mathe den Einstieg schafft, dann ergibt sich schön das Eine aus dem Anderen. Wer aber den Einstieg verpasst hat, der wird später damit oft nicht mehr glücklich."
Bei den Kleinsten anfangen
Mit der mathematischen Bildung müsse deshalb bereits bei den Kleinsten angefangen werden, ist Gaidoschik überzeugt. Wer an Mathematik denkt, hat vermutlich zunächst einmal Additionen, Subtraktionen, Multiplizieren und Co. im Kopf. - kurz: Zahlen. Mathematik umfasst aber viel mehr als das, betont der Experte. "Gerade im Kindergarten ist ein wesentlicher Bereich die Geometrie, das Beschäftigen mit dem Raum, das Erkunden von Formen, die im Alltag ständig präsent sind."
Wer kennt es nicht, das Spielzeug mit den sternförmigen, kreisförmigen, quadratischen Löchern, durch das Kleinkinder sternförmige, kreisförmige, quadratische Formen schieben müssen - und oft zunächst einmal an dieser Aufgabe verzweifeln, die für Zusehende doch so einfach wirkt. "Raumvorstellungen sind ein wesentlicher Bestandteil in allen gängigen Modellen von Intelligenz", erklärt Gaidoschik. "Das ist aber nicht etwas, das einem einfach in den Schoß fällt, sondern das entwickelt sich über Jahre hinweg, und die Kindheit spielt hier eine ganz große Rolle."
Das Interesse ist da - welches Kind möchte nicht messen, ob es im Vergleich zum letzten Mal vielleicht doch einen Zentimeter gewachsen ist. "Das Bild, das viele Erwachsene von der Mathematik haben, ist verzerrt", erklärt er. Vorrangig gehe es in Mathematik nicht um Rechnen oder Formeln, sondern um das Untersuchen von Strukturen und Mustern - "und die Beschäftigung mit Mustern ist etwas, das eine ganz starke Faszination auf Kinder ausübt."
Diese Faszination gehöre von Beginn an gefördert, und nicht erst in der Volksschule. Mathematische Bildung bereits im Kindergarten sei internationaler fachdidaktischer Konsens, umgesetzt werde es aber unterschiedlich. International betrachtet haben die ernüchternden Ergebnisse der PISA-Studien auch zu einem Nachdenken über die Bildungsaufgabe des Kindergartens geführt. Tatsächlich werden bereits im Kindergarten die Weichen auch für die mathematische Bildung gestellt, so Gaidoschik. Auf den Schultern der Kindergartenpädagogen laste eine schwere Verantwortung: "Mitunter werden sie wohl leider immer noch als liebe Tanten betrachtet, die lediglich auf die Kinder aufpassen. Tatsächlich müssen sie in der sensibelsten Phase der Lernentwicklung eines Menschen das Richtige tun, also müssen sie auch am besten von allen Pädagoginnen ausgebildet sein." Italien habe hier im Vergleich zu Österreich die Nase vorn: Hier sei schon länger klar, dass diese Ausbildung an der Universität zu geschehen habe - einer der Gründe, weshalb Gaidoschik nach Italien gekommen ist: "Das hat mich an Österreich immer gestört, dass die Politik den Kindergarten als zweitrangig sieht, jedenfalls behandelt."
Dabei gehe es nicht darum, den Kindergarten zu verschulen, wie es in Frankreich der Fall ist, sondern "die Mathematik im Alltag" zu begreifen und den Kindern spielerisch Nahrung zu geben für das Interesse, das sie in der Regel von sich aus an mathematischen Themen zeigen, ohne einem strikten Zeit- oder Stundenplan zu folgen oder Stress zu machen, dass dieses und jenes bis übermorgen gekonnt werden müsse, erklärt Gaidoschik.
Versuchskaninchen und Zahlentiger
Ersten Erfahrungen mit der Geometrie, den Zahlen, den Größen im Kindergarten folgt die Beschäftigung mit Mathematik in der Volksschule. Dass viele Kinder bereits bei den Grundrechenarten Schwierigkeiten entwickeln, sei eine Frage des Zahlenverständnisses, so Gaidoschik. Kinder lernen zwar früh, dass auf die Sieben die Acht und auf die Acht die Neun folge, aber es gehe im nächsten Schritt darum, zu verstehen, dass die Acht auch ein Teil der Neun sei, die Sieben ein Teil der Acht, und so weiter - das sogenannte "Teile-Ganzes-Verständnis" von Zahlen. Dass solche grundlegenden Einsichten nicht selbstverständlich sind, hat Gaidoschik auch in langjähriger Förderarbeit mit Kindern verstehen gelernt, unter anderem mit seinem Neffen. "Ich habe, noch bevor er in die Schule kam, immer wieder einiges mit ihm ausprobiert - aber ganz mit seiner Zustimmung. Mittlerweile ist er selber an der Uni, es hat ihm nicht geschadet - er studiert allerdings auch nicht Mathematik", lacht er.
Einen Forschungsschwerpunkt legt Gaidoschik auf Lernschwierigkeiten in Mathematik. "Die werden vonseiten der Psychologie als 'Dyskalkulie' besprochen und als Krankheit gesehen, aber da möchte ich dagegenhalten." Es sei wichtig, solche Schwierigkeiten nicht "der Psychologie zu überlassen, sondern auch unter fachdidaktischen Gesichtspunkten zum Thema zu machen. Es ist zunächst einmal eine Frage, wie man Kindern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen Mathematik vermittelt. Wir wissen aus der Fachdidaktik schon sehr viel, was man dafür tun kann, aber für die Umsetzung braucht es schulorganisatorische Maßnahmen, die das auch ermöglichen", beispielsweise zusätzliches Fachpersonal, das aber weder in Österreich noch in Italien ausreichend zur Verfügung gestellt werde. Statt Schüler zu trennen in jene mit und jene ohne "Dyskalkulie", möchte Gaidoschik Materialien und Konzepte für die gesamte Klasse entwickeln.
Im Projekt "TIGER - Teile Im Ganzen ERkennen" forscht der Didaktiker deshalb daran, wie man Kindern mit ganz unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, wie man sie eben in ersten Klassen findet, das nötige grundlegende Verständnis von Zahlen im Sinne des Teile-Ganzen-Konzepts vermitteln kann. Gemeinsam mit Grundschullehrkräften (in einem weiteren Schritt ist die Ausweitung auf den Kindergarten geplant) sollen Lernumgebungen entwickelt werden, in denen möglichst alle Kinder diese entscheidenden Einsichten zu Zahlen gewinnen können. Diese Unterrichtskonzepte werden umgesetzt und die Ergebnisse in Interviews mit Kindern und Lehrkräften überprüft, um festzustellen, inwieweit sich Ideen, die in der Theorie förderlich klingen, in der Praxis bewähren.
Coronabedingter Forschungsstopp
Erste Versuche dazu wurden bereits im Schuljahr 2017/2018 unternommen. Dann kam aber zunächst Gaidoschiks Ernennung zum Vizedekan dazwischen, anschließend wurde das Projekt wegen Corona auf Eis gelegt. "Die Forschung in dieser Weise ist in Italien derzeit zum Erliegen gekommen", bedauert Gaidoschik. "Ich bin nicht der Einzige, den das in der Forschung erst einmal zurückgeworfen hat. Ich vermute auch, dass es einen coronabedingten Einbruch in den Publikationen geben wird, jedenfalls bezogen auf diesen Typus von fachdidaktischer Entwicklungsforschung."
Im vergangenen dreiviertel Jahr habe er täglich 11 bis 13 Stunden vor dem Computer verbracht, beschreibt er seinen Arbeitsalltag während der Krise. "Wir haben hier an der Uni Bozen von einem Tag auf den anderen zu hundert Prozent auf Distanzlehre umgestellt. Ich hatte meine erste Vorlesung noch im Hörsaal am vierten März, und am selben Tag habe ich erfahren, dass die Lehre ab dem nächsten Tag nur noch online möglich sein wird. Es waren Monate, die an die Substanz gegangen sind, für sehr viele meiner Kolleginnen und Kollegen. Es ist nicht so, dass man sich einfach vor den Bildschirm setzt, statt seine Vorlesung im Hörsaal abzuhalten, sondern man muss jede Lehrveranstaltung neu vorbereiten und hat dafür eigentlich nicht die Zeit. Meine Funktion als Studiengangsleiter hat mir viele zusätzliche Verwaltungsaufgaben beschert, da blieb mir dann für die Forschung kaum noch Zeit."
Im aktuellen Semester läuft der Studienbetrieb an der Universität in einem Hybridsystem ab: Vorlesungen werden weiterhin über Distanz abgehalten, für Übungen gibt es Präsenzangebote. "Das ist aber mit Fragezeichen verbunden - es weiß ja niemand, wie es weitergeht. Wir müssen einfach von Tag zu Tag, von Woche zu Woche planen."
Von Anna Riedler / APA-Science
Service: Diese Meldung ist Teil der Reportage-Reihe "Im Porträt" auf APA-Science: http://science.apa.at/portrait