Die unsichtbare Sammlung
Tief unter den Ausstellungssälen des Naturhistorischen Museums (NHM) Wien ist man ausnahmsweise froh über die Maske, die Mund und Nase bedeckt und einen kleinen Schutz gegen die zehn Grad kalte Luft bietet, die beim Eintreten in den Tiefenspeicher entgegenströmt. APA-Science hat sich jenen Teil der Sammlung, der dem Auge des normalen Besuchers verborgen bleibt, näher angesehen.
Die Coronakrise habe das Naturhistorische Museum so wie andere Museen sehr hart getroffen. So spricht Markus Roboch, wirtschaftlicher Leiter des NHM, bei einem Pressegespräch von Einbußen von fast zwei Drittel der Umsatzerlöse. Aus diesem Grund und wegen des Bildungsauftrages habe das NHM als eines der ersten Museen nach dem Shutdown bereits am 20. Mai wieder seine Tore geöffnet. Besucher aus dem Ausland seien im Grunde nicht existent, stattdessen "wandern verhältnismäßig viele Wiener durch die Hallen". Die meisten von ihnen ahnen nichts von der Artenvielfalt, die sich weit unter ihnen verbirgt.
Denn in den Schausälen des Museums befindet sich nur ein kleiner Teil der Sammlung. Begonnen hat es 1893 mit 30.000 Exponaten, heute sind es 30 Millionen, und nur zwei Prozent davon sind Teil der eigentlichen Ausstellung. Diese, so Georg Gassner, Manager der herpetologischen Sammlung, die Amphibien und Reptilien umfasst, seien nicht wie oft geglaubt die Reserve für die Schausammlung, sondern dienen vielmehr wissenschaftlichen Zwecken wie genetischen oder morphologischen Untersuchungen.
Vorsicht, giftig
Von der historischen Architektur des Kuppelsaals, den marmornen Böden und blank geschliffenen Säulen ist drei Etagen unter der Erde nichts mehr zu erkennen. Im dritten von vier Untergeschoßen befindet sich der Trockentiefenspeicher. Die Betonflure mit ihren Rohren, Kabeln und Neonbeleuchtung erinnern an Horrorfilme oder militärische Stützpunkte, wie man sie von Hollywood kennt, und die Exponate, die hinter der Türe warten, tragen nicht dazu bei, das ungute Gefühl zu vertreiben.
"Vorsicht, nichts anfassen", betont Gassner. Dabei geht es ihm weniger um die Objekte und mehr um die Gesundheit der Besucher - denn viele der alten Präparate wurden mit Giften wie Arsen behandelt.
Zwischen riesigen Fischen aller Art steht unvermutet ein Schaf. Daneben liegt, komplett mit einem Stück Fahrbahn, ein überfahrenes, ausgestopftes Eichhörnchen. In den Regalen liegen Krokodile. Ihre Skelette und Lederhäute stapeln sich bis an die Decke. Die Häute stammen zum Großteil aus Beschlagnahmungen, weshalb sich unter ihnen auch ein weiß gefärbtes Exemplar befindet.
Eine Reihe weiter sind die Regalbretter voll mit Schildkröten. Ordentlich aufgestellt in Reih und Glied recken sie dem Beobachter ihre Bauchpanzer entgegen, bereit, geöffnet, seziert und analysiert zu werden. Der Blick wandert Regalreihen entlang, von riesigen Galapagos-Schildkröten über Exemplare, die problemlos auf eine Handfläche passen, verweilt kurz auf der Kobra, die sich scheinbar hineinverirrt hat, und landet immer wieder auf einem Krokodil.
"Ordnung gibt es in dem Durcheinander keine", erklärt er die Nachbarschaft von Schaf und Rochen, Schildkröte und Schlange. Dafür hat jede Kiste, jede Lade, jede Schachtel eine Nummer und einen Namen und ist so in der Datenbank auffindbar.
Die Angst vor dem Pelzkäfer
Anders als der Gast, dem die Angst vor dem Mann mit der Kettensäge im Nacken sitz, fürchtet sich Gassner vor etwas ganz Realem: Schadinsekten. Der Pelzkäfer, der in der Präparation durchaus absichtlich verwendet wird, um Objekte von Fleisch zu befreien und Knochen sauber abzunagen, und andere Tierchen sind hier unten nicht gern gesehen. Deshalb kommen Objekte zunächst in eine Stickstoffkammer, bevor sie insektenfrei gelagert werden. Regelmäßig werden außerdem von einer externen Firma Fallen aufgestellt, um sicherzugehen, dass kein Käfer die Stickstoffkammer überlebt hat.
Damit die Objekte außerdem keinen Schwankungen der Temperatur oder Luftfeuchtigkeit ausgesetzt, wird seit über 30 Jahren mit Siemens zusammengearbeitet, um mit einem Automationssystem für Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlagen eine stabile Umgebungssituation zu schaffen. Bleibt eigentlich nur noch die Angst vor einem Stromausfall. Denn obwohl es einen Dieselgenerator im Haus gebe, sei dieser nicht für den Erhalt der Sammlung zuständig, erklärt der für die Haustechnik zuständige Bernhard Biegl, sondern hauptsächlich für Fluchtwegsbeleuchtung im Falle einer Evakuierung sowie den Schutz der Server. Allerdings halte sich durch die unterirdische Lage die Temperatur einige Tage, man habe also im Fall eines Stromausfalls ein wenig Spielraum.
Seit vielen Jahren ist von einem gemeinsamen Speicher mit dem gegenüberliegenden Kunsthistorischen Museum unter dem Maria-Theresien-Platz, der sich zwischen den beiden Gebäuden befindet, die Rede. Solche Pläne hätten angesichts der angespannten monetären Situation zurzeit keine Priorität, erklärt Roboch. Ein Tiefbau in der Innenstadt sei zudem viel teurer als die Erweiterung eines Hochbaudepots etwas außerhalb der Stadt. Der Bau der U-Bahn-Linie U3 in den 90er-Jahren habe eine seltene historische Chance geboten, einen Tiefenspeicher zu bauen. Kaum ein anderes Museum verfüge über ein Depot unter der Erde.
In Alkohol eingelegte Schätze
Ein Stock über dem Trockenspeicher befindet sich mit verhältnismäßig kuscheligen 15 Grad der sogenannte Alkoholspeicher. Hier werden Exponate in alkoholbefüllten Gläsern aufbewahrt. In den kleinsten Gläsern sind Eier eingelegt, in den größten ganze Krokodile. Denen werden ihre Behälter allerdings etwas knapp. Wer eintritt, sieht sich zunächst aber einem angriffsbereiten Löwen gegenüber, der erst auf den zweiten Blick einen Schlangenschweif als Unterkörper besitzt. Das Mischwesen stand bis vor Kurzem in der Eingangshalle des Museums und wurde nun im Alkoholspeicher abgestellt.
Weniger aufmerksamkeitserregend, dafür viel wertvoller, ist der Inhalt einiger Kästen mit roten Etiketten. Sie enthalten den wahren Schatz des Museums, abseits aller Schaustücke - die Urmeter, auch "Typus" genannt. So werden jene Exemplare bezeichnet, nach denen eine Art ursprünglich beschrieben wurde. Diese Typen sollen sich grundsätzlich in öffentlichen Museen befinden, um für Wissenschafter der ganzen Welt zugänglich zu sein. Die herpetologische Sammlung verfüge über rund 3.000 Typen, erklärt Gasser nicht ohne einen gewissen Stolz. Durchschnittlich kämen pro Jahr etwa 50 Forscher aus aller Welt allein in diesen Teil der Sammlung, um Proben zu nehmen und Untersuchungen anzustellen. Im Vergleich zu den Besucherandrängen, die die Schausammlung anzieht, ist es eine verschwindend geringe Zahl, aber die Krokodile, Schlangen und Schildkröten kümmert es nicht mehr. Diejenigen unter ihnen, die noch Augen haben, blicken starr geradeaus. Und wenn kein Unglück passiert, werden sie das auch noch in hundert Jahren tun.
Von Anna Riedler/APA-Science
Service: Diese Meldung ist Teil der Reportage-Reihe "APA-Science zu Besuch ...": http://science.apa.at/zubesuch