"Fast waffenscheinpflichtig": Clarks 1848er-Buch in Wien präsentiert
Mit einer Podiumsdiskussion im gut gefüllten Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat der in Australien geborene und in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark am Freitagabend sein neues Buch vorgestellt. "Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt" wurde dabei in höchsten Tönen gelobt. Einziger Einwand: "Das Buch ist dem Umfang nach fast waffenscheinpflichtig zu nennen", meinte der Historiker Franz Fillafer.
Der am ÖAW-Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte arbeitende Wissenschafter gab nicht als einziger eine "nachdrückliche Leseempfehlung" für das fast 1.200-seitige Buch ab, das "eine Liebeserklärung an Europa" und den Kontinent als Einheit darstelle. Überdies habe Clark eine Fülle von Augenzeugenberichten zusammengetragen und widme sich anschaulich "der Akustik, Olfaktorik und Haptik der Revolution". "Es ist nicht ein Schlussstein der Forschung, sondern ein Ansporn für weitere Forschungen", so Fillafer.
Christiane Wendehorst, Präsidentin der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW, erinnerte in ihrer Begrüßung daran, dass die Akademie der Wissenschaften 1847, also quasi unmittelbar vor der Revolution gegründet worden sei. Seit 2015 ist Christopher Clark, der 2012 mit seinem Buch "Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" einen Bestseller landete, korrespondierendes Mitglied der ÖAW.
Der 63-Jährige Experte für neuere europäische Geschichte, für Moderator Michael Rössner "der europäischste Außereuropäer, den ich kenne", erzählte darüber, dass ihm im Schulunterricht die 1848er-Revolutionen "so weit entfernt wie das Alte Ägypten" schienen und sie als "kompliziert und gescheitert" dargestellt wurden: "Wer will sich schon mit so etwas befassen? In Erinnerung ist mir nur das Bild von Graf Latour am Laternenpfahl geblieben. Ich dachte mir, da muss wirklich die Hölle los gewesen sein." Der österreichische Kriegsminister war am 6. Oktober 1848 von Aufständischen in Wien gelyncht worden. Clarks Interesse als Historiker habe beim Nachleben der Revolution begonnen. In der heutigen Situation mit dem "Einbrechen von Gewalt und Spiritualität in die Politik" sei es "besonders spannend, ja sogar lehrreich über die Menschen und Situationen von 1848 nachzudenken".
"Sehr gelungene Zusammenschau"
Der Historiker Arnold Suppan nannte Clarks Werk eine "sehr gelungene Zusammenschau" und "ein Musterbuch, wie europäische Geschichte geschrieben werden sollte", der Kunsthistoriker Werner Telesko freute sich darüber, dass Clark wichtige Gemälde zur Revolution "auch mit substanziellen Kommentaren versehen" habe. Die von ihm gestellte Frage von Intentionalität oder Zufälligkeit der Revolutionen wurde vom Autor so beantwortet: "Natürlich waren sie aus Intentionen zusammengebaut, es war ja kein Schneesturm, aber die Intentionen stehen in einem chaotischen Verhältnis zueinander. Man muss von tausenden widersprüchlichen Intentionen sprechen in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus."
Die Historikerin Waltraud Schütz vom Institut für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes der ÖAW lobte Clarks Sichtbarmachung der Frauen, die in der offiziellen Politik keine Rolle spielten. "Die Selbstmobilisierung der Frauen war beachtlich", sagte Clark. "Aber das Patriarchat blieb intakt."
Schütz erzählte auch darüber, 2018 in Mailand das Strategiespiel "Radetzky" entdeckt zu haben, bei dem man den Fünf-Tage-Aufstand von Mailand, bei dem sich im März 1848 die Stadtbevölkerung gegen die österreichische Besatzung unter Feldmarschall Radetzky erhob, nachspielen konnte. "Ziel des Spiel ist es, die Österreicher zu besiegen und die Trikolore zu hissen." Bei ihrer Frage "Wenn Sie ein Brettspiel über 1848 entwerfen sollten - wie würde es aussehen?", gab sich Clark allerdings geschlagen: "Das wäre sicher spannend. Meine Antwort muss ich Ihnen aber per E-Mail nachreichen."
Service: Christopher Clark: "Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt", Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt, Andreas Wirthensohn, DVA, 1.168 Seiten, 49,40 Euro