Experte: Europa sollte seine Lieferketten besser kennen
Die globalen Lieferketten (Supply Chains) sind durch multiple Krisen - Ukraine-Krieg, Klimawandel, Pandemie - verletzlich geworden. Um gegen solche Krisen widerstandsfähiger zu werden, sei es dringend notwendig, dass europäische Länder ihre Supply Chains besser kennen, sagt Stefan Thurner, Chef des Complexity Science Hub (CSH) Vienna. Wie man Lieferketten resilienter machen könnte, ist am Samstag abschließendes Thema der Alpbacher Technologiegespräche.
"Dass Lieferketten nicht unendlich stabil sind, ist glaube ich jedem klar", so Thurner gegenüber der APA. Für Europa sei es daher "hoch an der Zeit", einen besseren Überblick über die eigenen Liefernetzwerke zu bekommen. "Das wichtigste ist, dass man sich von einer Vorstellung von Supply Chains verabschiedet, die etwas mit Ketten zu tun haben. Eine Kette hat zwei Enden, wie eine Wurst, und geht von A nach B." Was bei relativ simplen Produktionsabläufen wie dem Brotbacken vielleicht noch als einfache Kette darstellbar sei, werde bei der Herstellung von Computerchips oder Impfstoffen schon zum Netzwerk - und damit zum komplexen System.
Zwischen Effizienz und Resilienz
Komplexe Systeme haben einen gewissen Effizienzgrad und einen gewissen Resilienzgrad, sagt Thurner: "Stabilität und Resilienz hängen zusammen. Faustregel Nummer eins ist: Je effizienter, umso weniger resilient. Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, einen Schock zu überstehen und dann wieder sich selbst zu heilen, quasi sich selbst wieder in Schwung zu bringen." Will ein Unternehmen also die Effizienz erhöhen, könne es das Lager auflassen und die Waren nur noch On-Demand bestellen. Keine Lagerkosten bedeuten eine billigere Produktion, allerdings erhöht das die Abhängigkeit und geht zu Lasten der Resilienz.
Angesichts multipler globaler Krisen sei es jedenfalls ratsam, das eigene Liefer-Netzwerk genau zu kennen. Erst vor einigen Monaten haben die Komplexitätsforscher des CSH gezeigt, wie wenige Firmen ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen könnten. Am Beispiel Ungarns wurde anhand von Mehrwertsteuerflüssen demonstriert, dass dort nur 100 von 91.000 analysierten Unternehmen 75 Prozent des systemischen Risikos tragen. Sobald es zwischen den Firmen zu nennenswerten Geldflüssen kam, ist dies in den Daten erfasst. So konnten die Forscher einen Akteur nach dem anderen aus dem riesigen Lieferketten-Netzwerk herausnehmen, "und dann schauen, was passiert".
Dabei zeigte sich, dass den inneren Kreis des Netzwerks lediglich 32 "Hochrisiko"-Firmen bilden. Fällt eine von diesen 0,035 Prozent der Unternehmen aus, hat das den Berechnungen zufolge größte negative Auswirkungen auf 23 Prozent von Ungarns Wirtschaft. "Wenn man eine Steuerabrechnung macht und angibt, an wen die Umsatzsteuer gezahlt wird, dann kann ich das Netzwerk rekonstruieren. Und damit die Lieferkette - das ist dann der Schlüssel zu sehr vielem."
In einer Anfang August in "Scientific Reports" erschienenen Arbeit untersuchten die Forscher diesen Mechanismus in einem anderen mitteleuropäischen Land, das nicht genannt werden durfte. Dort konnten die Experten nicht auf Umsatzsteuerdaten zurückgreifen, sondern auf Mobilfunkdaten. Anhand von telefonischen Verbindungen zwischen Firmen wurden so ebenfalls Lieferketten rekonstruiert. Das Ergebnis war im Prinzip ganz ähnlich wie für Ungarn: "Wenn nur einige wenige zentrale Firmen ausfallen, gibt es eine Katastrophe für die Gesamtwirtschaft." Die Aussagekraft der Mobilfunkdaten sei jedoch bei weitem nicht mit jener der Steuerdaten vergleichbar, schränkt Thurner ein.
Systematische Erfassung als Ziel
In dem Positionspapier "Erhebung der österreichischen Lieferketten mit Umsatzsteuerdaten: Machbarkeit für Österreich" von Anfang Juli schlagen Thurner und sein Kollege Christian Diem daher vor, die Liefernetzwerke auch für Österreich systematisch zu erfassen. Dies sei mit einer einzigen Änderung möglich, so die Forscher: "Unternehmen übermitteln via Finanzonline nicht nur die Summe an bezahlter Vorsteuer, sondern schlüsseln diese auf ihre Lieferanten auf, wenn der Rechnungsbetrag innerhalb von einem Jahr einen Grenzwert von z.B. 1.000 Euro übersteigt." Durch "minimalen administrativen Mehraufwand" könne so das Liefernetzwerk eines ganzen Landes - inklusive Lieferanten aus und Kunden in Drittstaaten - erhoben werden.
Österreich sei in manchen Sparten dank der vielen Klein- und Mittelbetriebe sehr resilient, vor allem in technischen Bereichen: "Wenn ein paar ausfallen, können die anderen einspringen." Allerdings gebe es nirgends mehr absolute Sicherheit. Würde Taiwan die Chiplieferungen einstellen, würde vieles zum Stehen kommen, was auf die Schnelle nicht ersetzbar ist. Ebenso wenig resilient ist die Produktion von Antibiotika in Europa, so der Forscher: "Das sind irre Abhängigkeiten, die eben nicht bewusst sind. Wenn man die Liefernetzwerke kennen würde, könnte man auch diese Abhängigkeiten einmal darstellen." Auf Regierungsebene nehme das Bewusstsein dafür jedenfalls zu, und es würden bereits langsam entsprechende Schritte gesetzt.
Für ein resilienteres Liefer-Netzwerk bringt Thurner einen einfachen Punkteplan ins Spiel. Neben der erweiterten Mehrwertsteuer-Meldung könnte man Firmen und Institutionen Visualisierungs-Algorithmen zur Verfügung stellen. Neben Ministerien oder Institutionen wie Arbeiterkammer oder Wirtschaftskammer sei es dann auch Unternehmen möglich herauszufinden, wie anfällig sie im Liefernetzwerk sind. "In einem Satz: Wir müssen die Schwachstellen sichtbar machen - für die verantwortlichen Ministerien, für die Länder etc. aber auch für die Industrie selbst. Die Daten könnten auch auf eine Weise zugänglich gemacht werden, dass Datenschutz-Bedenken aus dem Weg geräumt werden", ist sich Thurner sicher: "Österreich könnte eine Vorreiterrolle einnehmen und eine Systematik erfinden, die man dann sehr einfach auf andere europäische Länder ausrollen könnte."