"Unsichtbares" Gedicht von W. H. Auden rekonstruiert
Mittels 3D-Computertechnik konnten Forscher:innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eine bislang unbekannte Gedichtversion des britisch-amerikanischen Schrift-stellers W. H. Auden, der 1973 in Wien verstorben ist, wieder herstellen.
Es war eine Zufallsentdeckung, die Timo Frühwirth und Sandra Mayer, Literaturhistoriker:innen an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gemacht haben: Bei ihrer Arbeit an einer digita-len Edition des Briefwechsels des britisch-amerikanischen Autors W. H. Auden mit der walisisch-österreichischen Schriftstellerin und Journalistin Stella Musulin, fielen ihnen zwei Dokumente auf, die farblose Schreibmaschineneindrücke von Gedichten enthalten. Durch den Einsatz von Computer-Vision-Technologien konnte nun eine frühe, bislang unbekannte Version eines Auden-Gedichtes re-konstruiert werden.
Weitere Entdeckungen möglich
Dieser Sensationsfund hat weitreichende Bedeutung nicht nur für die internationale Auden-Forschung. Die Eindrücke im Papier resultieren aus der Verwendung weiterer Blätter als Unterlage, die in die Schreibmaschine unterhalb jener Seiten eingefügt waren, auf denen Auden seine Gedichte tippte. "Das war eine gängige Praxis im Schreibmaschinenzeitalter", sagt Sandra Mayer: "Ich gehe davon aus, dass wir bei Auden weitere solche Blätter entdecken werden. Aber auch in Hinblick auf andere Autorinnen und Autoren ist das ein wichtiger Ansatz, um ihre Arbeitsweise besser zu verstehen."
Das Textfundstück ist ein Hochzeitsgedicht, das Auden anlässlich der Vermählung seiner Nichte Rita 1965 verfasst hat. "Aus Tagebucheinträgen schließen wir, dass es sich um die erste Version handelt, die er auf der Schreibmaschine getippt hat. Seine Notizen hatte er zunächst mit dem Bleistift geschrie-ben. Wir können dadurch literaturwissenschaftlich analysieren, in welcher Weise Auden poetisch gear-beitet hat", so Mayer.
Methode aus Forensik macht Unsichtbares sichtbar
Pionierarbeit haben die beiden ÖAW-Literaturhistoriker:innen ¬- in enger Zusammenarbeit mit der TU Wien - aber auch durch die neuartige Methode der Visualisierung geleistet. "Es handelt sich um eine Technik, die bereits im Bereich des kulturellen Erbes angewandt wird, etwa um Reliefe auf der Rücksei-te etruskischer Spiegel sichtbar zu machen", erklärt Timo Frühwirth: "Diese Technologie wurde aber noch nie auf literarische Archivpapiere aus dem 20. Jahrhundert umgelegt. Was die Entzifferung kom-pliziert machte, war, dass Auden das Trägerblatt mit den eingepressten Versen mit einem wiederum anderen literarischen Text überschrieben hat. Es gibt also mehrere, einander überlagernde Schichten - weshalb die Schrift mit freiem Auge nicht entzifferbar ist."
Wie konnte man sie jetzt doch lesbar machen? "In einer großen Zahl von Einzelaufnahmen wurde das Blatt jeweils aus einem anderen Winkel beleuchtet - mit Streiflicht, einer Methode, die auch in der Fo-rensik Anwendung findet, um Oberflächenstrukturen sichtbar zu machen. Von unserem Kooperations-partner Simon Brenner, vom Computer Vision Lab der TU Wien, wurde daraus mathematisch ein 3D-Oberflächenmodell erstellt", so Frühwirth.
Vier Hochzeiten und ein Todesfall in Österreich
W. H. Auden lebte und arbeitete während seiner letzten 15 Lebensjahre jeweils bis zu sechs Monate, von April bis Oktober, in Österreich - im niederösterreichischen Kirchstetten, wo er auch begraben liegt. Im englischsprachigen Raum haben die Gedichte von W. H. Auden, der 1907 im englischen York geboren wurde und, obgleich homosexuell, 1935 Erika Mann heiratete, um sie vor einer Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu schützen, den Rang von Weltliteratur. Seine Dichtungen wurden in Filmen wie "Vier Hochzeiten und ein Todesfall" (1994) oder "Gewalt und Leidenschaft" (1974) zitiert.
GEDICHT IM WORTLAUT
Die frühe Gedichtversion des Hochzeitsgedichts "Epithalamium" im Wortlaut.
PROJEKTINFOS
Das Projekt "Auden Musulin Papers: A Digital Edition of W. H. Auden's Letters to Stella Musulin" erstellt eine digitale Edition des Briefwechsels von W. H. Auden mit der Schriftstellerin und Journalistin Stella Musulin. Es wird am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt. ZUM PROJEKT
PUBLIKATION
"Revealing 'invisible' poetry by W. H. Auden through computer vision: Using photometric stereo to visu-alize indented impressions", Simon Brenner, Timo Frühwirth, Sandra Mayer, Digital Scholarship in the Humanities, 2023
DOI: https://doi.org/10.1093/llc/fqad037
PRESSEBILDER
Kostenfreies Bildmaterial ist per Klick auf den untenstehenden Download-Link zu finden.
VIDEO
Die Forscher:innen erklären ihren Fund hier im Video.
Rückfragehinweis: Sven Hartwig Leiter Öffentlichkeit & Kommunikation Österreichische Akademie der Wissenschaften Dr. Ignaz Seipel-Platz 2, 1010 Wien T +43 1 51581-1331 sven.hartwig@oeaw.ac.at Wissenschaftliche Kontakte Timo Frühwirth Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Österreichische Akademie der Wissenschaften Bäckerstraße 13, 1010 Wien T +43 1 51581-2231 timo.fruehwirth@oeaw.ac.at Sandra Mayer Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Österreichische Akademie der Wissenschaften Bäckerstraße 13, 1010 Wien T +43 1 51581-2251 sandra.mayer@oeaw.ac.at
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