"Alexander von Humboldt war mit der Wissenschaft verheiratet"
Die Buchautorin und Kulturhistorikerin Andrea Wulf berichtet am 18. Juni am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg über die "Erfindung der Natur" durch Alexander von Humboldt. Sie wurde in Indien geboren, ist in Deutschland aufgewachsen und lebt in England. Wulf schreibt etwa für die Zeitschriften "The Guardian", "The Sunday Times" sowie "Wallstreet Journal" und hat Bücher über Gartenkunst, Astronomie im 18. Jahrhundert sowie Humboldt verfasst.
APA-Science: Frau Wulf, wie sind Sie auf den Humboldt gekommen?
Andrea Wulf: Alexander von Humboldt ist in vielen meiner vorherigen Bücher immer wieder aufgetaucht, weil er in so vielen Disziplinen aktiv war. Für ein Werk über die Einstellung der amerikanischen Gründerväter zur Natur habe ich ein sehr langes Kapitel über sein Treffen mit Präsidenten Thomas Jefferson geschrieben, das der Lektor toll, aber nicht dazu passend fand. Dort habe ich es herausgenommen und mir gesagt: Gut, dann schreibe ich halt ein eigenes Buch über ihn.
APA-Science: Wo haben sie all das Wissen über ihn her?
Wulf: Das meiste ist von ihm selbst! Er hat 50.000 Briefe und fast 50 Bücher geschrieben, und sein ganzes Recherchematerial lagert noch so, wie er es selbst in seinen Boxen sortiert hat, in der Staatsbibliothek zu Berlin. Hier kann man sehen, wie er denkt, und wie er gearbeitet hat. Das war für mich ganz wichtig. Er hat zum Beispiel seine Sachen in verschiedenen Umschlägen verwahrt und umsortiert, wenn er ein anderes Buch geschrieben hat.
APA-Science: Wie war seine Denkweise genauer?
Wulf: Das kann man an seinen Originalmanuskripten bildlich am besten sehen: Er schrieb eine Seite voll, kritzelte dann neue Ideen in eine Ecke und so weiter, bis kein Platz mehr am Blatt war. Dann notierte er auf kleine Zettel, die er darauf klebte. Man hat bei solch einem Manuskript also eine sehr vielschichtige Collage seiner Gedanken, die nicht linear sind. Er dachte vernetzt, und das ist natürlich genau auch seine Art und Weise, wie er über die Natur dachte. Sie war für ihn also ein zusammenhängendes Ganzes, wo alles miteinander verbunden ist, vom kleinsten Insekt bis zum größten Vulkan.
APA-Science: Wie ist Humboldt zu dieser Erkenntnis gekommen?
Wulf: Aus seinen weltweiten Beobachtungen. Er ist zum Beispiel am Vulkan Chimborazo, der sich nahe am Äquator im heutigen Ecuador befindet, bis zu fast 6.000 Meter hoch aufgestiegen und hat dabei beobachtet, wie sich die Vegetationszonen ändern. Der Weg auf den Berg hinauf war für ihn also wie eine botanische Reise vom Äquator zu den Polen. Er war demnach eigentlich der Erste, der über globale Klima- und Vegetationszonen nachdachte. Humboldt hat auch erkannt, dass das Klima von vielen Faktoren abhängt, wie der Beschaffenheit des Landes und der Feuchtigkeit in der Atmosphäre.
APA-Science: Er hat demnach seine Schlüsse immer aus der Praxis gezogen und ja auch kritisiert, dass andere einen sehr beschränkten Horizont haben. Ein berühmtes Zitat von ihm lautet zum Beispiel, dass die gefährlichste Weltanschauung von Leuten stammt, die nie die Welt angeschaut haben.
Wulf: Das Zitat wird ihm immer wieder zugeschrieben, aber es stammt nicht von ihm. Trotzdem: Es stimmt ganz und gar mit seiner Meinung überein. Er sagte zum Beispiel immer wieder, dass ein Geologe den Ursprung der Erde nicht erkennt, wenn er nur den Hügel hinter seinem Haus anguckt. Seine Reisen, das Ansehen, aber auch das Fühlen der Natur waren bei ihm ganz wichtig. Er schrieb zum Beispiel in einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe: "Die Natur muss gefühlt werden."
APA-Science: Das hielt ihn aber nicht davon ab, sie wissenschaftlich zu betrachten, genau zu beschreiben und vermessen.
Wulf: Genau. Er reiste mit 42 wissenschaftlichen Instrumenten durch Südamerika und benutzte sie ständig.
APA-Science: War Humboldt in gewisser Weise besessen von seiner Arbeit? Er hat es ja offensichtlich nicht geschafft, irgendetwas nicht zu messen, irgendetwas nicht anzuschauen und nicht genau zu inspizieren.
Wulf: Ja, genau genommen war Humboldt verheiratet mit seiner Arbeit und seiner Wissenschaft. Er hat zum Beispiel sehr wenig geschlafen, bloß drei bis vier Stunden pro Nacht. Nur so konnte er das Arbeitspensum, das er sich selbst auferlegt hatte, wirklich durchführen. Er hat auch bis zum letzten Tag seines Lebens gearbeitet. Ein paar Tage, bevor er gestorben ist, hat er noch die letzten Seiten seines fünften Bandes des Hauptwerkes "Kosmos" abgegeben. Er war definitiv sehr besessen von seiner Arbeit.
APA-Science: Er steckte ja nicht nur seine ganze Energie, sondern auch sein ganzes Geld in die Forschung, die sein Lebenswerk war, oder?
Wulf: Humboldt war der Sohn einer sehr wohlhabenden aristokratischen Familie. Sein Vater starb, als Alexander neun Jahre alt war, seine Mutter, als er Mitte zwanzig war. Er bekam daraufhin ein sehr großes Erbe, das er aber fast komplett für seine Expeditionsreise nach Südamerika ausgegeben hat. Zusätzlich arbeitet er danach mit 50 Künstlern und Kartographen zusammen, um seine Skizzen in opulente Kupferstiche und Karten umzugestalten. Da ist im Grunde genommen der Rest seines Geldes draufgegangen. Und er hat auch immer junge Wissenschafter finanziell unterstützt.
APA-Science: Wie hat er daraufhin seinen Lebensunterhalt bestritten?
Wulf: Der preußische König zahlte ihm ein jährliches Gehalt, das Humboldt auch viele Jahre lang bezogen hat, obwohl er in Paris lebte. Irgendwann hat der König dann aber gesagt: "Jetzt reicht es langsam, ich will, dass der berühmteste preußische Wissenschafter wieder zurück nach Berlin kommt." Noch dazu war Deutschland damals im Krieg mit Frankreich. Da blieb Humboldt im Grunde genommen nichts anderes übrig, als wirklich zurück nach Berlin zu gehen. Er hat für sein Geld dann auch ganz schön viel gearbeitet, in dem Sinne, dass er da sein musste, wenn der König etwas von ihm wissen wollte. Humboldt hat selber sogar gesagt, dass er quasi ein wandelndes Lexikon für den König ist.
APA-Science: Apropos Krieg: Wie hat Humboldt es geschafft, kreuz und quer über Europa und die Welt seine Aktivitäten zu betreiben, während Kriege und Unruhen über das Land zogen und etwa die Französische Revolution stattfand?
Wulf: Das hat nicht immer geklappt. Einige der Expeditionen, an denen er teilnehmen wollte, wurden abgesagt, und deshalb hat die berühmte Südamerika-Reise wegen Kriegen erst nach ein paar Versuchen geklappt. Ansonsten war er sehr diplomatisch. Er führte zum Beispiel für den preußischen König in Paris diplomatische Tätigkeiten aus. Damals wurde Wissenschaft aber auch als etwas angesehen, das nicht politisch ist. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges hat Benjamin Franklin zum Beispiel Briefe an amerikanische Kapitäne geschrieben, dass der britische Captain James Cook im Namen der Wissenschaft reist und zu schützen ist, selbst wenn die USA mit England im Krieg waren. Oder Humboldt hat seine botanischen Pflanzenkisten sicherheitshalber nicht nur nach Deutschland, sondern parallel Proben auch nach England und Frankreich geschickt, damit irgendetwas davon in Europa ankommt, falls einmal ein Schiff überfallen wird. Und weil er wusste, dass ihm englische und französische Wissenschafter helfen würden, seine Sammlungen zurückzubekommen.
APA-Science: Warum war er überhaupt solch ein globaler Forschungsstar und in Amerika so populär wie in Frankreich, England und in seinem Herkunftsland Deutschland?
Wulf: Alexander von Humboldt hat erstens eine Art der Wissenschaft betrieben, die damals ungewöhnlich war, und zweitens seine Bücher und Vorträge nicht nur für die Wissenschafter im Elfenbeinturm verfasst, sondern für ein breites Publikum. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse hat er für alle verständlich beschrieben. Die großen "Kosmos-Vorlesungen" von Humboldt in Berlin waren gratis zu besuchen, also für alle da. Dort sind Dienstmädchen genauso hingegangen, wie Aristokraten. Die Art und Weise, wie er die Natur beschrieben hat, war sehr poetisch und hat die Leute angesprochen. Natürlich darf man nicht vergessen, dass er nicht nur wegen seiner Wissenschaft berühmt war, sondern auch als Abenteurer und Weltreisender. Er berichtete ja unter anderem von riesengroßen Vulkanen und Begegnungen mit gefährlichen Tieren.
APA-Science: Er hat sich also nicht nur um die Wissenschaft gekümmert, sondern quasi auch um ihre Vermarktung?
Wulf: Ja, und dabei war er auch ungemein produktiv. Humboldt hat in seinen Briefen aus Südamerika an Freunde oft erwähnt, dass sie seine Berichte gerne in der Zeitung veröffentlichen dürfen. Er war auch mit vielen anderen Wissenschaftern global vernetzt, genauso wie mit Künstlern. Für mich ist es eines seiner ganz wichtigen Vermächtnisse, dass er die Kunst und die Wissenschaft zusammengebracht hat. Dies fehlt mir heute zum Beispiel bei der Klimadebatte ein wenig. So wichtig Statistiken und Projektionen sind – manchmal brauchen wir auch Künstler, Filmemacher und Poeten, die uns helfen, zu kommunizieren, was gerade mit der Welt passiert. Hier können wir uns nicht nur auf die Wissenschafter verlassen. Hier war Humboldt auch ein Vorreiter, der alle zusammengebracht hat.
Service: Die Humboldt-Expertin Andrea Wulf wird die Geschichte des umtriebigen Wissenschafters ausführlich und unterhaltsam am 18. Juni ab 17 Uhr in der Raiffeisen Lecture Hall des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg erörtern. Ihren Vortrag (in englischer Sprache) illustriert sie mit zahlreichen historischen Skizzen, Gravuren und Manuskripten Alexander von Humboldts. Weitere Informationen und Anmeldung: https://ista.ac.at/Andrea_Wulf.
Das Gespräch führte Jochen Stadler/APA-Science
(Diese Meldung ist Teil einer Medienkooperation mit dem Institute of Science and Technology Austria.)
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