Vor 35 Jahren marschierte die sowjetische Armee in Baku ein
Nach seit Tagen andauernden Zusammenstößen gegen Armenier marschierte am 20. Jänner 1990 die sowjetische Armee in Baku ein. Tatsächliches Ziel war die Zerschlagung der oppositionellen aserbaidschanischen Volksfront, die für die Unabhängigkeit Aserbaidschans von Moskau eintrat. 150 Zivilisten wurden dabei getötet, mehr als 800 verwundet.
Gorbatschows Politik der Perestrojka und Glasnost hatte den Unabhängigkeitsbewegungen in den Sowjetrepublik Auftrieb gegeben, vor allem in den baltischen Ländern. Auch diesen sollte mit dem Einmarsch in Baku ein klares Signal gegeben werden. Die Existenz der Sowjetunion war von Gorbatschow zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt worden.
Letztlich beendete die sowjetische Intervention in Baku nicht die separatistischen Tendenzen, sondern beschleunigte sie nur.
Mythos Gorbatschow
Zum Jahrestag veranstaltete das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung ein wissenschaftliches Symposium. Der stv. Leiter, Peter Ruggenthaler, legte eingangs dar, dass es "ein Mythos" sei, "dass Gorbatschow keine Gewalt anwendete". Auch im April 1989 waren in Tiflis Demonstrationen blutig niedergeschlagen worden. Allerdings handelten in diesem Fall Kommandeure vor Ort eigenständig. Dass Gorbatschow die friedlichen Umwälzungen in Mittelosteuropa gewähren ließ, sei aber unbestritten Gorbatschows historischer Verdienst, so Ruggenthaler.
Der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Dmitri Jazow gab schließlich auch zu, so Mark Kramer (Harvard University), dass es Gorbatschows eigentliches Ziel war, mit der Militärintervention die Kontrolle über Aserbaidschan wiederherzustellen und damit anderen Sowjetrepubliken, insbesondere den baltischen Staaten, die potenziellen Kosten des Zerfalls vor Augen zu führen.
Dieser Plan, so erläuterte Nadia Boyadjieva (Bulgarische Akademie der Wissenschaften), scheiterte in zweifacher Hinsicht: zum einen konnte der Einmarsch in Baku den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht beenden: er verwandelte sich in einen offenen Krieg. Zum anderen bedeutete der Einmarsch für den sowjetischen Generalsekretär im Inneren einen Legitimationsverlust.
Bild des Friedensnobelpreisträgers habe Lücken
Farid Shafiyev, Vorsitzender des Center of Analysis of International Relations (Air Center) zeigte in seinem Vortrag die Lücken auf, die das Bild von Gorbatschow - Friedensnobelpreisträger 1990 - im Westen aufweist. Er plädierte dafür, dass es an der Zeit sei, nicht länger lediglich bestehende Narrative zu reproduzieren, sondern die Ereignisse auf Grundlage wissenschaftlicher und quellenbasierter Forschung zu diskutieren.
Für Stefan Karner, Gründer und langjähriger Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, war der "schwarze Januar" in Baku 1990 eine wesentliche Etappe im Prozess des Zerfalls der Sowjetunion: "Baku 1990 zeigte der Welt und den Führern in Moskau, was unter der Decke schon jahrzehntelang virulent war: die dichte ethnische Gemengelage im Raum des Kaukasus mit seinen willkürlichen innersowjetischen Grenzen, die gleichzeitig ethnische und religiöse Konfliktlinien waren." Ihre Aufarbeitung sei noch lange nicht abgeschlossen, vor allem, weil die Entwicklungen bis heute - etwa im Konflikt um Berg-Karabach - deutlich präsent sind.
Rückfragehinweis: Ludwig Boltzmann Gesellschaft Mag. Werner Fulterer Telefon: +43 1 513 27 50-28 E-Mail: werner.fulterer@lbg.ac.at
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