APA-Faktencheck: Zeitungsartikel aus 1987 zu Pockenimpfung spekulativ
Nur aufgrund flächendeckender Massenimpfungen ist es vor über 40 Jahren gelungen, die Pocken zu eliminieren (1). 1977 gab es den letzten nachgewiesenen Fall, seit 1980 sind sie offiziell ausgerottet (2). Ein 1987 publizierter Artikel zur Pockenimpfung wird von Impfkritikern immer wieder und bis heute aufgewärmt (3). Er soll belegen, dass die Impfung die Aids-Epidemie ausgelöst habe. Die aktuelle Studienlage macht dieser Argumentation das Leben allerdings äußerst schwer.
Einschätzung: Der Zeitungsartikel aus der Londoner "Times" ist echt. Die Aids-Epidemie wurde jedoch nicht, wie der Artikel nahelegte, durch die Pocken-Impfkampagne ausgelöst. Das stellte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits kurz nach Veröffentlichung des Textes richtig. Mehr noch: Die Impfung könnte laut einer Studie aus 2010 die Ausbreitung des HI-Virus zumindest temporär verlangsamt haben.
Überprüfung: Am 11. Mai 1987 erschien der Artikel (4), in dem zu lesen ist, dass "die Aids-Epidemie möglicherweise von der Massenimpfkampagne, die die Pocken ausgerottet hat, getriggert wurde". Die WHO untersuche demnach, ob die Immunisierung mit der Pockenimpfung das "schlafende HI-Virus erweckt" habe.
Autor Pearce Wright berief sich dabei auf einen nicht namentlich genannten WHO-Berater. Gleichzeitig betonte er, dass Ärzte diesbezüglich "gespalten seien" und WHO-Experten die Theorie in früheren Diskussionen wegen "unzufriedenstellender Beweise" verworfen hätten.
Reaktionen auf den Artikel folgten postwendend: Noch am gleichen Tag schrieb der "Evening Herald" in Bezug auf den "Times"-Bericht unter Berufung auf Wissenschafter, dass die kolportierte Theorie "bizarre Spekulation" sei (5). Tags darauf titelte der "Irish Independent": "Wissenschafter verwerfen Theorie, die Aids mit Pocken in Verbindung bringt" (6).
WHO reagierte mit Gegenbeispielen
Auch die WHO schrieb kurz darauf in einer Reaktion, dass es keinen Zusammenhang zu beobachten gebe und brachte Gegenbeispiele ins Treffen (7). In Asien seien zwischen 1967 und 1972 "Hunderte Millionen" Pockenimpfungen verabreicht worden, Aids sei dort trotzdem rar.
Gleichzeitig erlebten die USA eine große Aids-Epidemie, obwohl die Pocken dort in den frühen 1950er Jahren ausgerottet wurden, heißt es in dem Statement des damaligen WHO-Programmleiters für Aids, Jonathan Mann. Und obwohl in West- und Zentralafrika jeweils gleich viele Dosen des Pockenvakzins verimpft worden seien, sei Aids in Westafrika viel weniger verbreitet als in Zentralafrika.
Programmgründer Mann (8) reagierte zuvor auch via "Times" auf den Artikel. Die Zeitung stellte APA-Faktencheck einen am 13. Mai 1987 abgedruckten Leserbrief Manns zur Verfügung. Darin finden sich die oben genannten Erkenntnisse. Weiters kritisierte Mann, man solle sich auf Maßnahmen gegen Aids konzentrieren und nicht auf Spekulationen über die Ursprünge der Krankheit.
Aktuellere Studie legt Gegenteil nahe
Jahrzehnte später fanden Forscher der George Mason University in Virginia tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Impfung und der Verbreitung von Aids - allerdings anders als der Zeitungsartikel nahelegte: In der Studie aus 2010 heißt es, dass das Pockenserum die Vermehrung des HIV-Erregers im Körper deutlich hemmt, das Risiko einer HIV-Infektion also deutlich reduziert und nicht begünstigt (9). Zwei 2018 in Guinea Bissau und im Senegal durchgeführten Studien mit gegen Pocken geimpften HIV-Erkrankten fanden keinen Zusammenhang zwischen einer früheren Pockenimpfung und dem Fortschreiten der HIV-Erkrankung (10,11).
Forscher nehmen an, dass das Humane Immundefizienz-Virus in afrikanischen Affen entstanden ist (12). Meerkatzen (Halbaffen) sind dort mit Vorläufer-Viren infiziert. In Schimpansen entwickelte sich daraus das Simian Immunodeficiency Virus (SIV) durch Neukombination der ursprünglichen Viren. Auf den Menschen dürfte es durch sogenanntes Buschfleisch von SIV-infizierten Affen übertragen worden sein und sich zu HIV entwickelt haben (13,14). Die bisher früheste Infektion mit HIV wurde in einer 1959 entnommenen Blutprobe aus Kinshasa im Labor belegt (15).
Artikel wird gerne ins Treffen geführt
Der spekulative Zeitungsartikel aus 1987 wurde heuer nicht zum ersten Mal aus der Schublade geholt. Bereits rund um die Covid-19-Impfpflicht im Jahr 2022 tauchte das alte und bis heute unbelegte Schriftstück wieder auf (16). Damals hatte ein rechter Blog den Artikel aufgegriffen und ins Deutsche übersetzt (17).
Quellen:
(1) Spektrum.de: "Die Rückkehr der Pocken": https://go.apa.at/WVLeKV5h (archiviert: https://go.apa.at/UTAa4uDS)
(2) WHO zur Pockenkrankheit: https://go.apa.at/3HtUNomT (archiviert: https://archive.today/5PZeQ)
(3) Telegram-Posting: https://go.apa.at/M8kLP3zY (archiviert: https://archive.today/JxdTp)
(4) "Times"-Artikel aus 1987: https://go.apa.at/mGPQX3U8 (archiviert: https://archive.today/P8EBZ)
(5) "Evening Herald"-Artikel: https://go.apa.at/mO6Paro8 (archiviert: https://perma.cc/2H3X-HKAJ)
(6) "Irish Independent"-Artikel: https://go.apa.at/IcSpYfx7 (archiviert: https://perma.cc/BV3D-JJVK)
(7) WHO-Stellungnahme (Seite 31): https://go.apa.at/138uPAXw (archiviert: https://perma.cc/BN3A-A2N2)
(8) Nachruf auf Mann in der "NYT": https://go.apa.at/ke8P6iOh (archiviert: https://archive.ph/rDC3A)
(9) Studie der George Mason University: https://go.apa.at/1cuknTNg (archiviert: https://archive.today/lfKlq)
(10) Studie aus Guinea Bissau: https://go.apa.at/hegXo0Jc (archiviert: https://archive.today/KYM1X)
(11) Studie aus dem Senegal: https://go.apa.at/H6A0Q7ZX (archiviert: https://archive.today/MGGfw)
(12) Studie zum Ursprung von Aids: https://go.apa.at/aQNhfpTR (archiviert: https://archive.today/MlXMy)
(13) "Spiegel"-Artikel zur Übertragung durch Buschfleisch: https://go.apa.at/w7r0Wves (archiviert: https://archive.today/nmnx4)
(14) Artikel über Ursprünge von Aids: https://go.apa.at/9yBaWFOl (archiviert: https://perma.cc/RF62-LNG4)
(15) SWR-Artikel zur Geschichte von HIV/Aids: https://go.apa.at/Qm9q7Tom (archiviert: https://perma.cc/ZWB7-HQH7)
(16) Parlament zum Aus für Impfpflicht: https://go.apa.at/F5hV4Rnt (archiviert: https://perma.cc/5PGV-HKN7)
(17) Report24-Text mit Übersetzung: https://go.apa.at/HseehC7g (archiviert: https://perma.cc/5CDV-VQLP)
Wenn Sie zum Faktencheck-Team Kontakt aufnehmen oder Faktenchecks zu relevanten Themen anregen möchten, schreiben Sie bitte an faktencheck@apa.at. Die Texte vieler deutschsprachiger Faktencheck-Teams finden Sie auf der Seite des German-Austrian Digital Media Observatory (GADMO) unter: www.gadmo.eu